Reinhold Messner - Wie die Dohlen so sicher und frei

Er gilt als der bedeutendste Bergsteiger, er hat alle Achttausender-Gipfel und viele andere bestiegen, das Klettern und das Höhenbergsteigen revolutioniert, Wüsten und Wildnisse zu Fuß durchgequert. Er hat sich immer wieder in Lebensgefahr gebracht und hat überlebt, was wirklich ein Wunder ist. Im September diesen Jahres wird er 80 Jahre alt. Wie ist er zu dieser Tätigkeit, ein Beruf war das damals nicht, gekommen, wie hat sich seine Karriere entwickelt und wie war es möglich, dass er solche Höchstleistungen vollbringen konnte?

Er entdeckte bisher Unbekanntes in der Welt und in den Menschen, er erfand neue Techniken und begründete neue Schulen des Kletterns und Bergsteigens. Diese drei Dimensionen meines Modells von Entdeckungspraxis finden sich auch bei ihm wieder, je nach Lebensphase allerdings unterschiedlich prämiert. In späteren Phasen seiner Karriere hat das Ziel seines Endeckerdrangs, das Entdecken der Wildnis und des Unbekannten in seiner Menschennatur nicht mehr die Bedeutung wie in den ersten Phasen. Er besucht Bergvölker, um deren Menschennatur zu verstehen, gründet neben vielem anderen Museen, in denen er seine Erkenntnisse über die Menschennatur und die Bergnatur vermitteln will, also kulturelle Tätigkeiten wie er sagt, um die letzten Wildnisse der Erde bewahren zu helfen. Er schreibt Bücher drüber, macht Filme, Veranstaltungen und hält Vorträge.

Triade Entdeckungspraxis

Zu den Besonderheiten dieser Fallstudie

Anders als die hier beschriebenen Naturwissenschaftler, die das Unbekannte in der Natur entdecken und zum Teil des menschlich zugänglichen Kosmos machen wollen, will er nicht die äußere Welt, sondern die Natur des Menschen, der Gattung, in ihrer Auseinandersetzung mit dem Kosmos, in diesem Fall den Bergen, Wüsten und anderen Wildnissen entdecken und erkunden.

Anders als bei den Naturwissenschaftlern, möglicherweise eher ähnlich den Künstlern, was noch zu untersuchen sein wird, endet das Entdecken nicht, denn die Menschennatur ist komplex und nahezu unergründlich verglichen mit einem physikalischen oder chemischen Phänomen. Aus diesem Grunde gibt es kein Zeitpunkt des Entdeckens, zu dem die Entdeckungspraxis abgeschlossen ist.

Die Triebkraft, die Menschennatur im Verhältnis zur Natur der Wildnis zu erkennen, begleitet ihn sein Leben lang, wenn auch die Objekte und die Medien wechseln.

Aus diesem Grund gibt es überreiches Datenmaterial, das er in seinen Autobiografien zur Verfügung stellt, die überdies einen hohen Grad an Selbstreflexion aufweisen. Viele seiner Aussagen sind -vermutlich auch durch das eigene Schreiben und Vortragen - auf den Punkt gebracht und es ließ sich rasch der Bezug zu meinen wissenschaftlichen Modellen herstellen. Hervorragend geeignet ist seine Autobiografie in Gesprächen mit Thomas Hüetlin durch ihre dialogische Form, deshalb wird sie am häufigsten zitiert: Mein Leben am Limit 2004.

Noch eine Besonderheit dieser Fallstudie. Diese Fülle an autobiografischem Material ermöglichte es, die Triebkräfte des Entdeckens genauer als in den anderen Studien untersuchen zu können. Triebkräfte sind die energetische Dimension der Persönlichkeit, sie spielen bei Entdeckern generell und bei ihm in besonderem Maße eine sehr große Rolle, denn Entdeckerkarrieren brauchen und verbrauchen ein großes Quantum an Energie, um erfolgreich zu verlaufen.
Im ersten Teil werden die drei karrieresteuernden Triebkräfte Entdecken, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit und Totale Herausforderung, die Karriereanker vorgestellt. Die Dimension Lebensgeschichte und die Dimension komplexer Organismus unseres Persönlichkeitsmodells werden in ihrem Wechselspiel mit den Triebkräften gezeigt, aber nicht prämiert. Im zweiten Teil liegt der Fokus auf den Lebensphasen, also der genetisch historischen Dimension der Persönlichkeit.

Seine Entdeckerkarriere weist viele Merkmale der typischen Entdeckerkarriere auf, unterscheidet sich von anderen aber durch seine Fähigkeit, sich radikal umzuorientieren und damit den sich mit ihm und in der Welt vollziehenden Wandel aktiv zu verwandeln.

Persönlichkeit Dimensionen

Seinen Lebenslauf sowie seine Projekte, Bücher und Filme findet man auf seiner Website
Reinhold Messer

1. Die Triebkraft Entdecken

„Jeder Mensch ist nun einmal von dem Streben beseelt, die Fähigkeiten, die er in sich fühlt, auszubilden und bis zum Äußersten anzuspannen. Wer zur Malerei geboren ist, bleibt stumpfsinnig, brummig und unruhig, bis er endlich Pinsel und Farbe in die Hand bekommt und anfangen kann zu malen. Einen anderen juckt es in den Fingern, weil er aus Holz, Stein oder Eisen Gestalten schaffen möchte, die fortwährend in seinem Geiste auftauchen. Der dritte muss durchaus singen, und wieder andere sehnen sich danach, von der Rednerbühne aus die Zuhörer im Bann zu halten und ihre Stimmung zu meistern wie eine Geige. So hat jeder seinen inneren Drang, der zutage will. Dazu kommt, dass er sich insgeheim ein sehr hohes Maß gesetzt hat – das höchste –, an das er mit seinem inneren Streben heran zu reichen sucht. Niemals ist er mit sich und der Welt zufrieden wenn er sich nicht zur vollen Höhe retten darf, die ihm als Ziel seines Könnens erscheint.“ (R.M. Vorwort zu Der gläserne Horizont, 1982, 6-7)

Persönlichkeit energetisch
In diesem Teil geht es um die ersten Phasen seines Lebens, in denen sich die Triebkräfte des Entdeckens entwickeln, seine Berufung immer deutlicher wird und die darauffolgenden, in denen er seine Entdeckungen macht. Es geht um die Entwicklung seiner Entdeckerpersönlichkeit als Produkt des Zusammenwirkens von Individuum, sozialem und kulturellen Wesen und der Beziehung zu seiner sozialen und kulturellen Außenwelt.

1.1. Die Berge und das enge Tal - Kulturelle und soziale Auslöser für den Entdeckerdrang

Um die innere Triebkraft seiner Persönlichkeit, die Triebkraft entdecken zu wollen, zu verstehen, hilft ein Blick auf ihre Genese. Was hat zu ihrer Entstehung beigetragen, welche Auslöser in seiner Umwelt gab es? Er bezeichnet sein Tal und die Berge drumherum sehr treffend als seinen Kosmos, die den Menschen dort bekannte Welt. Die Berge stellen die einen starken Reiz dar seinen Kosmos zu erweitern, sie lösen starke Resonanzen in ihm als Kind aus. Die Berge sind da, sie bleiben da und man kann sie besteigen. Sie prägen die Kultur der Menschen, die dort wohnen, Bergvölker entwickeln eine sehr eigene Kultur, das interessiert ihn im Laufe seines Lebens immer mehr.

“ Als kleines Kind war Pitzack mein ganzer Kosmos, meine Heimat. Wir wohnten in einem Straßendorf, tief unten im Villnößtal. (…) Der hoch aufsteigende Wald und das aufgetürmte Gestein darüber versperrten jeden Blick hinaus. Oft saß ich nur da und schaute den Wolken nach, die über den engen Himmelsausschnitt schwebten. (…) Ich habe damals nicht darüber nachgedacht, wie später von daheim wegkommen sollte und in welchem Beruf. Es war der Blick von oben, der mich neugierig machte. Der Blick vom Gipfel ins Tal und der Blick hinter die Berge, die meine Welt umstanden wie Kerkermauern.“ (RM 1992, 16)

Interviewer: “ Gab Ihnen das enge Tal eher das Gefühl der Begrenztheit oder das der Geborgenheit?
Es kam mir immer so vor, als käme ich nicht aus (hinaus? KRG). Dieses Tal war meine ganze Welt. Die Wolken kommen auf der einen Seite des Tales herein, und dann verschwinden sie auf der anderen Seite. 10 Minuten später. Was dahinter ist, existierte nicht. Und wir kommen nicht hinaus! Vielleicht hängt mein Wandertrieb zusammen mit meinem Erinnerungsbild aus der Kindheit. (…)
Interviewer: Löste die Welt hinter Villnöß Neugierde in ihnen aus?
Auf jeden Fall meine erste Bergtour auf den Saß Rigais erschütterte mich nicht, weil sie lang und anstrengend war, sondern weil ich über unser Tal hinausschauen konnte. Da war ein Tal und noch ein Tal, und dann waren weit hinten nochmals Berge. Erst dahinter sah ich nichts mehr, keine Berge, kein Tal, nichts was war. Und die Welt wurde plötzlich größer. Der Kosmos wuchs. Und damit war meine Neugierde geweckt: Was ist dahinter und noch mal dahinter, blieb als Erinnerungsfrage. (Das war 1961, Messmer war 17 Jahre alt, dabei war sein jüngerer Bruder Günther, 15 Jahre alt, KRG).
(…)
Interviewer: Und damit wuchs die Sehnsucht?
Auszuschreiten und zu sehen, was ist dahinter.“ (RM 2004, 22-23)
„Natürlich fühlt man sich in Südtirol manchmal beengt, aber ich fühle mich nicht zum Exil getrieben. Vielleicht hätte ich nicht dasselbe – fast krankhafte – Bedürfnis nach der Ferne entwickelt, wenn ich in Deutschland oder in den USA aufgewachsen wäre.“ (RM 1982, 93)

Die Berge und das Tal sind von Menschen kulturell angeeignete Natur, Berge werden bestiegen, kartographiert, Wege gelegt und als Verbindung zwischen den Tälern genutzt, gerade in Südtirol, einer uralten Kulturlandschaft, schon seit 3000 Jahren. Täler werden besiedelt, die Böden bewirtschaftet und die Natur und Landschaft von den Menschen geprägt.

Berge sind kulturelle Artefakte, die wie bei allen Entdeckern als Auslöser für die Entwicklung der Triebkraft Entdecken eine große Rolle spielen, und zwar in der Kindheit.
Bei Marie Curie waren es die physikalischen Apparate ihres Vaters und die naturwissenschaftlichen Bücher, bei Alexander von Humboldt Sammlungen von Tieren und Pflanzen und bei Katalin Karikó auch Tiere und Pflanzen und bei Picasso die Bilder seines Vaters und dessen Malutensilien.
Neben diesen zur Kultur der Menschen gehörenden Artefakten gibt es einen zweiten Typus von Auslösern des Entdeckerdrangs in ihrer Außenwelt, die durch soziale Interaktion entstehen.

Auch hier spielen meistens Artefakte eine Rolle, zum Beispiel Bücher und Geschichten wie bei Humboldt Reiseberichte über Südamerika, die er begeistert mit seinem Bruder Wilhelm las. Bei Messmer ist es das Buch des berühmten Bergsteiger George H. L. Mallory, das seine Mutter für ihn auswählt und ihm vorliest. Die emotionale Dichte der Situation lässt sich gut aus seiner Schilderung erahnen. Diese spielt wie immer bei der Entstehung von Triebkräften eine herausragende Rolle. Es ist die Beziehung zu einer wichtigen Person, der geliebten Mutter, und deren Beziehung zu dieser Geschichte, die starke Gefühle und Vorstellungen hervorrufen, mit denen die Geschichte Mallory’s psychisch besetzt und damit energetisch aufgeladen wird. Gäbe es die positive Beziehung zur anderen Person und deren positive Beziehung zu dieser Geschichte nicht, fände keine Besetzung statt. Mallory wird neben Hermann Buhl und Paul Preuß für ihn zum Modell, Idol und Mentor. Zur gleichen Zeit darf er das erste Mal mit seinem Vater als Fünfjähriger in den Bergen klettern.

Auf die Frage warum Messner sich so intensiv dem Leben von Mallory zugewandt hat, antwortet er: „Zum einen, weil Mallory der erste Bergsteiger am Mont Everest war. Ein legendärer Herausforderer. Zum anderen, weil ich seine Geschichte von meiner Mutter als Kind vorgelesen bekommen habe. Auf der Geschmargenhart-Alm, neben einer Petroleumlampe. Es bleibt meine erste Geschichte von den Bergen und damit die Wichtigste. Interviewer: Wie alt waren Sie? Fünf oder sechs.“ (RM 2004, 188)
Nach seiner Besteigung des Everest hat seine Mutter ihm „das Heftchen, aus dem sie mir vorgelesen hatte“ geschenkt. (RM 2004, 188)
So ist mir Mallory als Kind ins Unterbewusstsein geraten, später bei meinem Everest-Alleingang eine Art Partner geworden. Ich konnte mir nicht nur vorstellen, wie er ums Leben gekommen ist: Ich glaubte ihn zu kennen. Ich habe damals schon geschrieben, wo sein Körper liegen müsste, und dort lag er schließlich auch.“ (RM 2004, 189)

1.2.Biophysische und psychische Voraussetzungen seiner Entdeckungspraxis

„Solange ich mich zurück erinnern kann, war ich Felskletterer. Dabei kletterte ich nicht nur an den Wänden der heimatlichen Geislerspitzen, an haushohen Felsplätzen am Waldrand, an Ruinenfassaden und in der Schulpause an der Friedhofsmauer. Vor allem kletterte ich in meiner Fantasie. Im Geiste meinem Können immer ein wenig voraus, stieg ich durch immer steilere Felswände – bis mir kein Weg in der Vertikalen mehr unmöglich erschien.“ (RM, Einleitung zu: Mein Leben am Limit 2004, 9)

Die Mutter schreibt über ihn: „Er gedieh sehr gut-Schon als Kleinkind zeigt er keine Furcht (Mut)-Kampflustig (Schule)-Allergisch gegen Ungerechtigkeit–Verletzlich“ (RM 2014, 16)

Seine offenbar von Anfang an vorhandene körperliche und psychische Konstitution, seine Vorstellungskraft und sein Talent ermöglichen es ihm, diesen Drang, der sich zunehmend in ihm entwickelt, austreibt, ausleben zu können.

Ich hatte damals schon viel Energie und Stehvermögen (in der Schule, KRG). Dazu eine sehr große Aggressionskraft. Warum? Ich weiß es nicht…. Aber ich kann mich sehr schnell erregen. Mein Erregen ist inzwischen zum Teil Spiel zum Teil nicht bei Ungerechtigkeiten, Angriff, Betrug werde ich gefährlich.“(RM 2004, 34)

Temperament: Viel Lebensenergie (Libido, Chi, Prana) Aggressionspotential, Kampfeslust
Physis: Enorme Kraft, Geschicklichkeit, Ausdauer, Körperbeherrschung, robuste Gesundheit
Psyche: Mut, Furchtlosigkeit, ein starker Wille zur Unabhängigkeit und Selbständigkeit, Ehrgeiz, Leidenschaft, Neugier, Rastlosigkeit, Risikobereitschaft, Ungeduld, rebellisch

1.3. Das Unbekannte entdecken: Die Menschennatur im Verhältnis zur Wildnis

Hat man von Reinhold Messner bisher nichts gelesen oder gehört, so geht man davon aus, dass er die Gipfel der Berge, die noch nicht bestiegen worden waren, entdecken wollte. Das hat er auch, aber darum geht es ihm nicht primär, sagt und schreibt er.

Er versteht sich nicht als Entdecker von unbekannten Teilen der Welt wie zum Beispiel Humboldt, Columbus und andere, deren Ziel die Entdeckung der Terra incognita oder der unbekannten Natur war. Er prämiert die Entdeckung der Menschennatur, entdeckt parallel dazu auch den Berg und seine Bergnatur, wie er sagt, die Route zum Gipfel und den Gipfel, später die Eigenheiten der Wildnisse, die er durchquert.

Die Menschennatur, die sich in Beziehung setzt zu den Wildnissen der Natur, zu erleben, zu erfahren und zu verstehen, ist das Ziel seiner Entdeckerpraxis.

Die Funktion des Kletterns und Bergsteigens und Gehens ist für Messner also Selbsterkundung und Selbsterfahrung als Individuum, aus der er Schlüsse auf die Menschnatur ziehen will, Schlüsse von ihm als Gattungswesen auf die Gattung, zumindest auf den Teil davon, der Wildnisse erkundet oder am Rande von Wildnissen siedelt.

„Bergsteigen ist mein Leben – nicht ausschließlich natürlich, aber ohne würde ich nicht mehr auskommen. Nicht, weil ich‘s als etwas Herausragendes oder Besonderes empfinde, losgelöst von meinem übrigen Leben. Aber es gibt mir ein naives, intensives Wissen über mich selbst immer unter möchte ich noch weiter vorstoßen.“ (RM 1982, 93)
"Ich habe immer gesagt, Bergsteigen ist Selbstzweck. Es gibt keinen anderen Grund, keine andere Motivation, die Berge hinauf zu steigen, als die eigene Leidenschaft, den Ehrgeiz, die Begeisterung für die Natur."(RM 2004, 236-237)
"Ich brauche keine Rechtfertigung für mein Tun, die Begeisterung reicht." (dito, 293-94)
"Die Auseinandersetzung mit einer archaischen Welt, ohne Gesetze, ist Grenzgang. Da oben gibt es für ein selbstverantwortetes Team keine Gesetze.“ (dito, 300)
"Klettern hat mit Freiraum zu tun, außerhalb aller Regeln etwas zu wagen, erleben zu können, Erkenntnisse über die Menschennatur zu schöpfen.“ (dito, 11)
"Ich folge der Menschennatur, wollte der Natur näher sein als die anderen". (dito, 44)

Die Terra incognita, die er entdecken will, ist seine Menschennatur, seine Seele und sein Körper in Beziehung zum Kosmos, sein Interaktionspartner ist der Berg oder die Wüste. Er nennt es das Verhältnis von ‚Menschennatur und Bergnatur‘. Er hat großen Respekt vor der Natur, er kämpft nicht mit oder gegen sie viele andere Bergsteiger, die versuchen den Berg zu bezwingen, meist unter Zuhilfenahme von technischen Mitteln. Er verzichtet auf Hilfsmittel und kompensiert diesen Verzicht durch die Verschiebung des eigenen Limits. Keine Spuren am Berg zu hinterlassen, ihn zu beschädigen, zum Beispiel durch Bohrhaken, wie es damals übliche war, ist sein Ziel, ein „Verzichtsalpinismus“. (RM in Caya und Schmid 2002, 21)

„Diese Radikalität hat alle Nagler gegen mich aufgebracht. Viele hassen mich heute noch dafür, es kam zu zwei Schulen.
Hüetlin: Ihre Schule wollte den direkten Zweikampf mit der Natur?
Nein, nicht wie bei einem Zweikampf. Ich setze mich ja nur aus. Nie gegen andere ein. Ich bin bereit, hinauszutreten aus der bürgerlichen Welt. Freiwillig hinein eine Nicht- Menschenwelt.“ (RM 2004, 46)

Das war die frühe Phase und später kommt die kulturelle Beziehung hinzu:

Für mich ist das Bergsteigen heute eine kulturelle Auseinandersetzung zwischen Menschennatur und Bergnatur. Eine kulturelle Angelegenheit also!“ (RM 2004, 292-93)

Seine Existenz als einzelner Mensch, als Individuum und als Teil der Menschheit, er hat beide Perspektiven, wenn er sie auch im Laufe seiner Biographie unterschiedlich prämiert.

1.4. Seine Entdeckungen über die Menschennatur

Entdecken ist Abenteuer wagen

Die Menschennatur in Beziehung zur Natur, zum Kosmos entdecken zu können, ist am besten beim Versuch des Unmöglichen, beim Abenteuer, das einen das eigene Limit erfahren lässt, zu erkennen.

„Es war schlimm. So sind echte Abenteuer, entweder du überlebst, oder du bist tot.
H: War Ihnen das klar?
Sicher, das ist in solchen Situationen ganz klar, jedem ist es klar, dass es ums Überleben geht, aber du redest nicht darüber. Bei solchen Abenteuern gibt es kein Zurück mehr, es geht nur nach oben.“ (RM 2004, 39)
„Wenn ich die Methode mit dem Bohrhaken einsetze, gibt es kein Unmöglich mehr und ohne dieses sind Abenteuer nicht denkbar. Das wirkliche Abenteuer erlebe ich erst, wenn ich weiß, wie eine Sache ausgeht. Abenteuer wagen heißt, dass Unbekannte, vielleicht Unmögliche aufzusuchen. Ich bin dann wie auf einem anderen Stern. Wenn ich alles richtig dabei mache, komme ich zurück, sonst vielleicht nicht.“ (RM 2004, 46)

Entdecken ist Selbsterfahrung

Wir werden uns unserer Zerbrechlichkeit unserer Begrenztheit bewusst. Das ist der Grund des Grenzgehens. Im Grenzgehen komme ich nicht nur an die Grenze dessen, was ich machen kann, sondern ich stelle vor allem fest, was sich alles nicht machen kann. Grenzgänger sind nicht notwendig fürs praktische Leben, sie sind nur eine Spielmöglichkeit – eine Möglichkeit, sich auszudrücken, zu uns selber zu kommen.“ (Philosophie 2002,12-13)

Ja, eine starke Erfahrung kann ich nur machen, wenn es Fragen und Fremdheit gibt. Wenn es dort, wo ich hin gehe nur Vertrautheit gibt, ist keine Aufregung möglich. (…) Nicht das Vertraute, sondern das Fremde, in das ich hineingehe, lässt in mir eine Revolution entstehen. Aus der Spannung zwischen Vertrautheit und Fremdheit passiert in mir etwas. Sonst passiert nichts.“ (Philosophie 2002,17)

„Meine Landkarte hat deshalb mit Ausgesetztsein, Raum-Zeit und Eigenverantwortung zu tun. Auch Erinnerungsbilder gehören dazu. Jedes Unterwegssein ist wie ein Leben für sich, ein Draußensein auf einem anderen Stern. Je höher ich dabei klettere, umso tiefer kann ich meine Ängste erfahren, je größer der Berg, auf den ich steige, umso größer der Überblick über meine Existenz.“ (RM 2004, 220)

Aber ich kann auch nicht ohne Grenzerfahrungen leben. Mein Krankheitsbild ist umrissen mit: Lebenslust durch Einsatz des Lebens.“ (RM 2004, 98)

„Wenn ich tagelang allein bin, wird das Vorgehen immer schwieriger, weil die Einsamkeit und die Angst wachsen. Zur Schwierigkeit und Anstrengung kommt das Alleinsein. Das Herausgenommensein aus einem sozialen Umfeld ist eins, die Menschheit, zu der man gehört hat, zu verlieren, ist mehr. Das belastet. Ich habe diese Art des Auf-Mich-Selbst-Zurückgeworfen-Seins nicht ertragen. Obwohl ich gut trainiert war. (RM 2004, 111)

Bedeutung des Scheiterns

„Gelernt habe ich vor allem dann, wenn ich gescheitert bin. Ich bin wohl öfters gescheitert als die allermeisten anderen und nur deshalb erfolgreich geworden auf der Suche nach dem Limit. Immer wieder.“ (RM 2004, 268)

So scheitert er am 1973 Nanga Parbat und 1975 versucht er einen weiteren Achttausender, den Lhotse allein zu besteigen, und scheitert wieder.

„Die Frage war, wie gehe ich mit der Erfahrung des Scheiterns um? Das Scheitern an sich ist nicht wichtig. Das unmittelbar darauf Folgende, die innere Wirkung, das Infragestellen des Ichs, auch die Verzweiflung, ist der Schlüssel dazu. Es ist ein neuer Anfang und die Möglichkeit, seine Grenzen zu erfahren und an seinen Zweifeln zu wachsen. Meine innere Einstellung hat sich vor allem mit meinem häufigen Scheitern verändern. Dabei bin ich nicht sanfter geworden. Nur zäher.
Im Scheitern nämlich erfahren wir unser Begrenztsein. Deshalb ist das Scheitern eine stärkere Erfahrung als der Erfolg. Auf dem Gipfel angekommen zu sein, bedeutet es geschafft zu haben, mehr nicht. Das Ziel ist damit verschwunden. Mit dem Scheitern bleibt das Ziel. Die Verzweiflung darf folgen, als das Begreifenwollen des Scheiterns, als das Fassen der eigenen Grenze. Wie oft bin ich gescheitert. Als kleiner Bub schon. (…) Ja auch das Scheitern will in kleinen Schritten geübt sein. Wenn ich immer wieder neue Herausforderungen angenommen habe, dann nicht, weil ich ehrgeiziger wäre als anderen, sondern vielleicht, weil ich im Scheitern Grund genug sah, einen neuen Versuch zu wagen. (RM 2004, 134-135)

Entdecken der Menschennatur in Momenten der Todesgefahr

„Es gibt in der Gefahr aber Momente, die nicht zu überleben sind. Wer diese Zusammenhänge nicht versteht und akzeptiert, darf nicht am Limit bergsteigen. Es muss ja nicht sein.“ (RM 2004, 108)

In Todessituationen nicht umzukommen ist das Entscheidende. Oder Gottfried Benn: Bergsteigen ist der Widerstand gegen den herausgeforderten Tod. Der Tod also muss eine Möglichkeit sein. Die Kunst des Bergsteigens ist der Widerstand dabei, das Überleben. Ich möchte ein Erlebnis wie am Nanga Parbat nie mehr ertragen müssen, nie wieder etwas Ähnliches mitmachen müssen. (RM 2004, 98)

Im Widerstand gegen den Tod erfahren wir Menschen erst unser Menschsein. (..) Das Geheimnis liegt darin, dass ich die stärksten Erfahrungen nur haben kann, wenn ich bis an den Rand meiner Möglichkeiten gehe.“ (RM 2004, 97)

Bei der Besteigung des Nanga Parbat 1970 kommt sein Bruder Günther ums Leben und er überlebt nur knapp.

„Solange Hoffnung da ist, am Leben zu bleiben, macht das Sterben Angst. Wenn alle Hoffnung verschwindet – so meine Erfahrung am Nanga Parbat –, kommt etwas Erlösendes über uns, das Einverständnis mit dem Tod. Zuletzt ein In–den–Tod–Sinken. Nein, sterben ist gar nicht schlimm. Und dieses Erlebnis – nicht das Sterben selbst – will man wiederhaben. Ich hoffe jedes Mal, dass ich es wieder haben kann, dass dabei aber nichts passiert. Das hat nichts mit Todessehnsucht zu tun, sondern mit Erfahrungshunger. Ich bin nicht in der Schwebe zwischen Todesangst und Todessehnsucht, sondern zwischen dem Schrecken umzukommen dabei und der Freude, überlebt zu haben am Ende." (RM 2004,99-100)

Vertrauen auf den eigenen Instinkt

„Ich habe von anderen gelernt, habe mich anfangs immer untergeordnet. (…) Was ich besser konnte, war, den Weg finden. Das Wegfinden haben wir als Kinder gelernt. Wir wussten einfach es geht nur da und dort.“ (RM 2004, 32)
„Klettern ist wie Ballett, Komposition und Choreografie zugleich, nur um Sekunden versetzt. also ist jede Sekunde anders, denn die Felsstruktur gibt mir vor, wie ich zu komponieren habe und damit auch, wie ich es zu machen habe. Wenn ich gut klettere, denke ich nicht, überhaupt nichts. Alles wird instinktiv, wenn ich den richtigen Fluss finde, es geht wie von alleine die Wand hinauf. Als wäre die Schwerkraft aufgehoben.“ (RM 2004, 50)
„Bei solchen Abenteuern gibt es kein Zurück mehr, es geht nur nach oben. Aber der Instinkt funktioniert, man tut das richtige. Aber wenn man Pech hat, reicht ein einziger Fehler und es ist aus. (…) Der Überlebenstrieb, das Instinktive in uns mobilisiert alle Kräfte, den siebten Sinn, auch Angst und Mut. Der Mensch verhält sich instinktiv richtig. Es gibt keine Zweifel mehr. Das Falsche ist aufgehoben.“ (RM 2004, 39)

1.5. Die zwei anderen Dimensionen des Entdeckerpraxis: Erfinden und Begründen in den ersten Phasen der Karriere

Entdecken ist das Produkt des Zusammenwirkens dreier Dimensionen: Unbekanntes entdecken, Neues erfinden und Neues Gründen bzw. begründen. Erst in ihrem Zusammenspiel entsteht die Entdeckerpraxis. Er hat nicht nur wie im vorigen Abschnitt beschrieben Unbekanntes entdeckt, sondern neue Techniken erfunden und neue Formate des Kletterns, des Höhenbergsteigens und des Entdeckens anderer Formen der Wildnis, der Wüsten usw. Daraus entstehen Schulen, Richtungen, die die neue Praxis umsetzen und solche die sie ablehnen, er begründet also auch neue Disziplinen.

Seine radikalen Innovationen des Kletterns und Höhenbergsteigen

„Ich kann grundsätzlich meine Grenze nicht überschreiten, meine Grenze an Ausdauer, an Mut, an Kraft, an Geschicklichkeit – die Summe aller meiner Fähigkeiten hat klare Grenzen. Aber es gibt eine zweite, objektive Grenze: die Grenze des zur Zeit in dieser oder jener Sparte Machbaren. Alles was in den Augen der Fachleute nicht machbar ist, liegt jenseits der objektiven Grenze und gilt als Tabu. Aber d.h. noch lange nicht, dass das ewig so bleiben muss. Als Grenzgänger kann ich immer wieder Grenzen verschieben. Und in der Höhenbergsteigerei habe ich das gemacht und 15 Jahre lang bestimmt, wo es lang geht und die andern haben vieles nachgemacht, ob sie wollten oder nicht.“ (Caysa und Schmidt 2002, 19-20)
„Was heißt hier Regeln und wer stellt sie auf? Umgekehrt könnte man sagen, alle großen Erfolge sind meist gegen alle Regeln erreicht worden. Es gibt auch eine ‚Regel‘, dass niemand allein ins Eis geht, auf Berge steigen, durch eine Felswand klettert. Na und. Man hat einen Kameraden, ein Seil und sichert sich. Wenn es geht gegenseitig. Trotzdem kann ich natürlich alles anders machen“. (RM 2004, 107)

Ein neues Format, der Alleingang

Interviewer: „Am Manaslu, Ihrem nächsten Achttausender, geht wieder alles schief. Warum?
Es ging wirklich alles schief. Nach diesem Berg habe ich beschlossen: »So, jetzt machst du es allein! Immer, wenn du dich mit anderen Leuten zusammentust, funktioniert etwas nicht. «" (RM 2004, 102)
Mit diesen Erfahrungen (am Manaslu) reifte der Entschluss, es in Zukunft ganz alleine zu versuchen. Zum ersten Mal in meinem Leben. Beim Alleingang trage ich nur die Verantwortung für mich." (Und nicht für seine Bergkameraden, KRG). (RM 2004, 109)

Zwei seiner Kameraden verlieren im Schneesturm die Orientierung und kommen um. Zwei Jahre davor kommt sein Bruder Günter am Nanga Parbat um. Er leidet lange unter dem Schuldgefühl, selbst am Leben geblieben zu sein und beschließt künftig Alleingänge zu machen und nicht mehr in Seilschaften zu gehen. Später durchbricht er diese Regel und geht mit Peter Habeler, Hans Kammerlander in die Berge, mit Arved Fuchs und seinem Bruder Hubert Messner durch die Eiswüsten. Das Format Alleingang aber hat er durchhaft etabliert.

Revolution der Kletterpraxis- Seine Erfindungen neuer Praxis

„Mit 20 kam dann die Erleuchtung. Ich war einer der ersten, der beim Klettern anders vorging als alle anderen.“ (RM 2004, 31)

Das bezieht sich darauf, dass er erst immer weniger und dann keine Haken mehr geschlagen hat, um sich abzusichern. Eine Steigerung der Technisierung des Bergsteigen lehnt er ab, stattdessen erprobt er selbst und fordert von anderen ein Verzicht auf diese Hilfsmittel.

„Wenn ich die Methode mit dem Bohrhaken einsetze, gibt es kein Unmöglich mehr und ohne dieses sind Abenteuer nicht denkbar.(…)Diese Radikalität hat alle Nagler gegen mich aufgebracht. Viele hassen mich heute noch dafür, es kam zu zwei Schulen.“ (RM 2004, 46)

Damit hat er nicht nur eine neue Technik des Kletterns erfunden, die später von der Freiklettern aufgenommen und weiterentwickelt wurde, sondern zugleich auch eine Schule oder Richtung des alpinen Kletterns begründet, die dritte Dimension des Entdeckens.

So wenig Hilfsmittel wie möglich -radikale Innovationen der Praxis des Höhenbergsteigens

„Der nächste große Entwicklungsschritt im Höhenbergsteigen kommt 1975. Am Gasherbrum I konnte ich das, was ich im Alleingang machen wollte, mit einem Partner umsetzen, mit Peter Habeler. Es war eine wirkliche Revolution: mit einem Minimum an Ausrüstung schwierige Wege zu den höchsten Bergen der Welt zu gehen.“ (RM 2004, 111-112)

Dann kommt 1978 seine Everest Erstbesteigung mit Peter Habeler ohne Sauerstoff, die eine neue Stufe des Ruhmes brachte. Einmal wegen der Erstbesteigung d.h. der Entdeckung des Gipfels und zum anderen wegen der Erfindung einer neuen Praxis des Höhenbergsteigens ohne Träger und ohne Sauerstoff, eine Revolution der Bergsteigerpraxis. Eine Kombination des neuen Formats und der neu erfundenen Praxis.

„Ja, die Everest-Besteigung war der erste große Erfolg, der eine weltweite Wirkung hatte.“ (120) “Es war der erste Alleingang auf einen Achttausender“ (RM 2004, 124) „Das Bergsteigen hatte der Everest- Erfolg weniger revolutioniert als die Gasherbrum-Tour.“ (RM 2004, 120).

Aber sie hat ihm mehr Geld eingebracht, von dieser Zeit an brauchte er sich nicht mehr um Werbeverträge zu kümmern, um seine weiteren Touren zu finanzieren.
In den späteren Phasen seiner Karriere tritt er verstärkt als Gründer und Begründer auf. Die eindrucksvollste Gründung sind sicher seine sechs Museen in Südtirol, in denen er seine Erkenntnisse über die Menschennatur, insbesondere der Bergvölker weitergibt und die Geschichte des Bergsteigens dokumentiert.

2. Die Triebkraft Selbständigkeit und Unabhängigkeit

Selbständigkeit und Unabhängigkeit ist einer der Karriereanker, die Edgar Schein entdeckt und beschrieben hat. Als Psychologe versteht er darunter eine Mischung aus Motiven, besonderen Fähigkeiten und Werten, die er als Selbstkonzept bezeichnet. Ich verstehe Karriereanker hier als Teil der energetische Dimension der Persönlichkeit, als innere Triebkraft. Totale Herausforderung ist ein weiterer Karriereanker, die Schein in seinem Untersuchungssample gefunden hat.
Im Gegensatz zu Edgar Schein arbeite ich mit der Trias aus drei Karriereankern, die in Wechselwirkung zueinanderstehen. Beide Triebkräfte unterstützen die Triebkraft Entdecken.

Mehr zum Konzept der Anker im Menüpunkt Entdeckerkarrieren
Merkmale von Entdeckerkarrieren
Karriereanker

Worin zeigt sie sich die Triebkraft Selbstständigkeit und Unabhängigkeit? Welche Maximen, welche Selbsteinschätzungen und Selbsttypisierungen, welche Entscheidungen und welches Handeln in der Praxis lassen darauf schließen? Und was sind die Auslöser für ihre Genese und Entwicklung?

Was mich stark macht, ist das Gefühl, unabhängig zu sein.(…) Die Leidenschaft für ein noch so unnützes Tun hat mich stark gemacht und gibt mir zuletzt jene Sicherheit, die Voraussetzung ist für ein selbstbestimmtes Leben.“ (RM 2004, 263)
Wir Menschen geben Sinn. (…) Der Sinn fällt nicht vom Himmel, aber ich habe die Freiheit und die Möglichkeit, meinem Leben Sinn einzuhauchen. Wir selbst sind die Sinnstifter, es ist unser gutes Recht, in unser Tun, in eine Person, eine Sache Sinn hineinzulegen. Genau das tue ich. Ob ich da bei einer nützlichen oder einer unnützen Tätigkeit nachgehe, spielt keine Rolle. Aber ein guter Sinnstifter wird im Leben weiterkommen als jemand dem das nicht gelingen will. (RM 2004, 302-303)
Die Lösung: Wohin? Halbnomade sein, bedeutet unabhängig zu sein. (RM 2004, 223)

2.1. Auslöser für die Entwicklung der Triebkraft

„Ja ich war schon immer ein revolutionärer Mensch. Ich habe stets Probleme damit gehabt, mir von anderen Vorschriften machen zu lassen. Auch vom Vater. Ich war auch der erste, der sich gegen den Vater aufgelehnt hat. Es gab deswegen oft Auseinandersetzungen, die unsere Mutter dann irgendwie gelöst hat. Sonst hätte mich mein Vater umgebracht. (…)
Dann meine Kletterleidenschaft. Das hat ja mit fünf Jahren angefangen, da bin ich erstmals auf den Saß Rigais gestiegen. Zuerst hat mich mein Vater unterstützt. (Er unternimmt als 12jähriger mit ihm die erste schwierige Klettertour. KRG) Bald hat er gebremst und angefangen, meine Ausflüge wieder zu kappen. Wohl weil ihm klar geworden ist, dass ich mit großer Begeisterung kletterte. Und nichts durfte zur Leidenschaft ausarten. Es dürfte alles gemacht werden, aber nur so, wie es die braven Leute machen.“ (S. 19)

Seine Beziehung zur Kirche:“ Da war keine Revolte gegen Gott. Als ich anfing, aus der Predigt zu gehen oder am Sonntag nicht mehr in die Kirche, war das nur meine Auflehnung gegen den Apparat Kirche. (…) Alle gingen in die Kirche. Es war Gewohnheit. Unvorstellbar, dass man nicht mehr in die Kirche ging. Wahrscheinlich sind wir im Tal die ersten gewesen, die gesagt haben, wir sind am Sonntag beim Klettern. Die Mutter meinte dann: ‚Da braucht ihr nicht in die Kirche.‘“ (RM 2004, 21)

H: Was war die wichtigste Entscheidung ihres Lebens? Der verhängnisvolle Abstieg am Nanga Parbat? Nein es war der Entschluss, gemäß meinen Wünschen, Vorstellungen und Träumen zu leben und nicht nach denen meiner Eltern, Lehrer oder Brüder. Ich habe mich nicht in eine bürgerliche brave Welt zwingen lassen. (RM 2004, 255)

Ich wollte doch nie Gegenstand von Entscheidungen anderer sein (RM 2014, 23)

Auch der Widerstand, dem ich oft begegnet bin, ist zuletzt Teil meines Glücks. Man kann an Widerständen ja auch wachsen und trotzdem ein selbstbestimmtes Leben führen. (RM 2004, 284)

2.2. Worin zeigt sich die Triebkraft?

Alleingänge

Im Gänsemarsch fühlte ich mich nicht wohl. «Wenn eine Krähe auf dem Baum sitzt und ein Schwarm Spaten vorbeifliegt, wird die Krähe nicht mitfliegen», hatte die Mutter einst gesagt. Wohin die Mehrheit auch drängt, muss nicht immer richtig sein. (…) Ich bin jedenfalls immer meinen Weg gegangen und von computergesteuerter Schwarmintelligenz halte ich bis heute nicht viel.“(RM 2014, 25)

Interviewer: „Am Manaslu, Ihrem nächsten Achttausender, geht wieder alles schief. Warum?
Es ging wirklich alles schief. Nach diesem Berg habe ich beschlossen: „So, jetzt machst du erst allein! Immer, wenn du dich mit anderen Leuten zusammentust, funktioniert etwas nicht. " (RM2005, 102)

„Es war der erste Alleingang auf einen Achttausender. (…)
Interviewer: Worin lag Ihre besondere Befriedigung, es allein nach oben geschafft zu haben?
Mich selbst, meine Ängste, Zweifel und Schwächen überwunden zu haben! Ich musste mit niemandem Kompromisse machen, mit niemandem streiten. Es gab keinen Besteigungsplan, ich ging höher und höher. Ich habe also Stunde für Stunde meinen Plan gemacht. Es war der absolut ideale Tritt gewesen: Selbstbestimmt, selbst verantwortet, selbst dirigiert, gegen alle Vorurteile durchgestanden.“ (RM 2004, 124)

Keine Regeln und Vorschriften

Die Natur gibt keine Regeln vor, deshalb braucht er nicht gegen sie zu kämpfen. Die Menschen versuchen beständig ihre sozialen Beziehungen und ihr Zusammenleben durch Regeln zu ordnen und zu steuern. Das kann und will er nicht akzeptieren, davon macht er sich unabhängig.

„Die Auseinandersetzung mit einer archaischen Welt, ohne Gesetze, ist Grenzgang. Da oben gibt es für ein selbstverantwortetes Team keine Gesetze. Wenn man selbstständig unterwegs ist, regiert die Natur. Der Alpinist geht deshalb dahin, wo keine Infrastruktur ist. Und er ist alleine für sich verantwortlich. Oder teilt sich die Verantwortung mit den Leuten, die mit ihm gehen. Wenn ich eine Infrastruktur in Anspruch nehme, dann gibt es einen Gesetzgeber, der außerhalb steht, der weiß, wer die Infrastruktur eingerichtet hat. Beim Alpinismus gibt es nur die Entscheidung der Menschen, die unterwegs sind. Wie sie was miteinander machen, ist allein ihre Sache. Alles andere ist Tourismus! (RM 2004, 300).

Was heißt hier Regeln und wer stellt sie auf? Umgekehrt könnte man sagen, alle großen Erfolge sind meist gegen alle Regeln erreicht worden. Es gibt auch eine „Regel“, dass niemand allein ins Eis geht, auf Berge steigen, durch eine Felswand klettert. Na und. (…) Trotzdem kann ich natürlich alles anders machen. (RM 2004, 107)

Regeln gibt es nicht! (RM2004, 108)

Unser Verhalten ist instinktiv. Es gibt dabei kein Richtig oder Falsch. Ich brauche keine äußeren Vorschriften, die Dinge finden wie vor der Menschenzeit statt. Nur das Breiten- und Massenbergsteigen braucht Regeln. (RM 2004, 43)

„Mit zwanzig kam dann die Erleuchtung. Ich war einer der ersten, der beim Klettern anders vorging als alle anderen. (RM 2004, 31)

Das bezieht sich darauf, dass er erst immer weniger und dann keine Haken mehr geschlagen hat, um sich abzusichern.
Der Drang zur Unabhängigkeit und Autonomie zeigt sich auch in folgendem:

Er hat und will aber kein Manager, weil er nicht eines Tages der Eigendynamik solcher Verwertung zum Opfer fallen möchte“ schreibt Alexander Langer, ein Südtiroler Politiker, der ihn interviewt hat, in den achtziger Jahren über ihn (RM 1982, 93)

Lieber ausgegrenzt als angepasst! Meine größte Fähigkeit – las ich kürzlich – sei es, mich unentwegt unbeliebt zu machen.“ (RM 2004, 207)

Keine Etikettierung seiner Person

Ein weiteres Beispiel für das Wirken dieser Triebkraft:
Als ich ihn bitte, meine Beschreibung seiner Entdeckerkarriere zu kommentieren, weist er dieses Ansinnen zurück und sagt: “Ich bin kein Entdecker“. (Vortrag „Nanga Parbat – mein Schicksalsberg“ in Hannover am 23.2.2024). Ich erkläre, dass ich eine andere Auffassung von Entdeckung als üblich habe und mich als nächstes mit Picasso beschäftigen werde, den er, wie ich aus seinen Schriften weiß, verehrt, darauf sagt er „Es ist mir eine Ehre“.
Vermutet er eine Vereinnahmung seiner Person durch Etikettierung, so weist er sie zurück, hier meldet sich die Triebkraft Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Ein weiteres Beispiel neben vielen anderen kann man in dem Buch „Reinhold Messners Philosophie“ nachlesen. Als die beiden Herausgeber ihn interviewen und als Philosophen ansprechen: “Nein, nein, ich bin kein Philosoph.“ (Caysa und Schmidt 2002, 13, 37, 161). Er lässt sich von anderen nicht einordnen oder einem Typus zuordnen, er bestimmt selbst was er ist. Das begann vermutlich schon damit, dass er nicht der Lehrersohn sein wollte, der nach dem Willen seines Vaters als Vorbild für die Dorfjugend dienen sollte, er und seine Brüder galten im Dorf eher als Räuberbande.

3. Die Triebkraft Totale Herausforderung

Grenzen austesten, z.B. wenn alle sagen, das geht nicht, dann fühlen sich Menschen mit dieser Triebkraft erst recht angespornt es zu versuchen, die Möglichkeit zu Scheitern gehört für sie dazu.
Mehr dazu lesen: Karriereanker

Wer die Grenze des Machbaren austestet, lebt ständig zwischen Rückschlägen und Bestätigung.“ (RM 2004, 158)

3.1. Worin zeigt sich die Triebkraft?

Langeweile

Menschen mit dieser Triebkraft langweilen sich, wenn Sie wissen, dass etwas funktionieren wird oder dass sie es bewältigt haben. Und wenn sie etwas geschafft haben, interessieren sie sich für das nächste Vorhaben.

Alles Haben ist langweilig, davon bin ich überzeugt. Jedes Haben – Wissen, Know-how, Besitz –auch den Mount Everest bestiegen zu haben, ist hinterher banal und damit langweilig. Nur bevor ich den Berg bestiegen habe, ist er eine Herausforderung. Diese zählt mehr als der Erfolg hinterher.“
(RM 2004, 234)

Interviewer: „Sie haben einmal gesagt: «Spannend ist für mich nur das Neue». Langweilen Sie sich, wenn Sie auf Ihre Leistungen zurückblicken?
Ich langweile mich sogar, wenn mir fremde Leute auf die Schulter klopfen und mir zu meinem Erfolgen gratulieren.“ (RM 2004, 263-264)

Immer wieder neue Ideen und Projekte

Menschen, die diese Triebkraft nicht haben, verstehen dieses Handeln nicht, finden es nur anstrengend und sehen die Belohnung nicht, wie auch dieser ansonsten sehr einfühlsame Interviewer.
Nach diesem Endpunkt brauche ich eine neue Aufgabe, eine neue Idee, ein neues Projekt. Jeweils dem Alter entsprechend. Ich schließe nicht aus, dass ich mir mit meinem Museumsprojekt eine Herausforderung für das Altern erfunden habe. Oder um nicht zu verzweifeln.
Interviewer: Das klingt als seien sie manisch depressiv.
Nein das bin ich nicht. Im Gegenteil beim Tun überkommt mich Lebensfreude.
Interviewer: Zuerst brennen Sie für eine Vorstellung und eine Idee, und dann, ist die Idee erst verwirklicht, versinken sie in Traurigkeit.
Nein, da ist keine Trauer, mehr ein tiefes Durchatmen und die Erkenntnis, wie viel das Leben wert ist. Aber nur, wenn ich es erneut ausfülle, wenn ich mich einbringe. (RM 2004, 235)
„All mein Wissen über soziale, naturwissenschaftliche, religiöse Zusammenhänge beruhen auf Erfahrungen, die ich selbst gemacht habe. Das ist einer der Gründe, warum ich mich später immer wieder dazu zwang, die nächste Expedition auf die Beine zu stellen, eine neue Reise zu wagen. Wie oft habe ich mir gesagt: es ist genug! Trotzdem, Wochen später, wenn die Anstrengungen, die Sorgen, die Schinderei vergessen waren, begann ich von einer neuen Herausforderung zu träumen, eine neue Klettertour zu planen. Bald war ich wieder unterwegs.“ (RM 2004, 10)

Diese Triebkraft liefert ihm die Energie und die Motivation, sich erneut die Anstrengungen des Entdeckens auszusetzen, dient also dem Entdeckeranker. In Kombination mit seinem ausgeprägten Willen und seiner Berufung gelingt es ihm weitere Projekte zu planen und erfolgreich abzuschließen. Umgekehrt liefert die Triebkraft entdecken der totalen Herausforderung Anlässe und Ziele, sich zu zeigen und ausgelebt werden zu können.

Ideen realisieren

Menschen, die diese innere Triebkraft haben, sind handlungsstark, sie belassen es nicht bei Ideen und Vorstellungen, sie müssen wissen, dass es realisierbar ist.

Wenn ich Momente erwische, in denen ich Schwierigkeiten überwinde, bin ich stark und ausgefüllt. Mein Erfolg, mein Leben war nichts anderes, als aus Ideen Tatsachen gemacht zu haben.
Interviewer: Sie sprechen von sich schon in der Vergangenheit?
Ja, ich muss ja gar nichts mehr machen! Trotzdem werde ich meine Zeit weiterhin damit ausführen, Ideen umzusetzen. Ich kann nichts anderes. (RM 2004, 281)

Sie (meine Kinder) merken ja, dass ich nur Ideen realisiere. Es geht mir nie um Besitz oder Geld. (…) Die Kinder wissen, dass die Burg und auch die Bauernhöfe nie wirtschaftlichen Gewinn abwerfen werden. Das sind reine Liebhaberobjekte. Wir sind froh, wenn wir keinen Verlust machen. So sind alle unsere Lebensinhalte reine Liebhaberei.(RM 2004, 172)

Leidenschaft und Egoismus

Ich habe immer gesagt, Bergsteigen ist Selbstzweck. Es gibt keinen anderen Grund, keine andere Motivation, die Berge hinauf zu steigen, als die eigene Leidenschaft, den Ehrgeiz, die Begeisterung für die Natur. Den Anspruch an mich selbst, es möglichst gut zu machen oder sogar besser zu sein als andere, gebe ich auch bei dem Museumsprojekt nicht auf. Ich habe mich immer um Qualität bemüht. Ich habe damit kein Problem, ich habe nur ein Problem mit dem Mittelmaß. Nur weil ich mutig zu meinen Ideen, Projekten und Ansprüchen stehe, bin ich häufig zum Egoisten abgestempelt worden. Ich möchte einen Menschen kennenlernen, der kein Egoist ist. Picasso war ein großartiger Egoist, und er hat seine Bilder gemacht, weil er sie machen musste. (236-237)

„Wir sind alle Egoisten, nicht nur wir Grenzgänger. Und jeder, der etwas anderes behauptet, hat von der Menschennatur wenig Ahnung. Die Spezies Mensch wäre nicht mehr auf der Erde, wenn sie nicht egoistische Gene hätte. Der Mensch aber ist genauso Altruist. Im kleinen Kreis vor allem. Weil wir nur gemeinsam durchkommen. Wir sind darauf angelegt, von wem auch immer – das hat nichts mit unserer göttlichen Dimension zu tun –, dass unsere Gattung überlebt.“ (RM 2004, 294-95)

Rebellisches Wesen und Mut

H: Was war die wichtigste Entscheidung ihres Lebens? Der verhängnisvolle Abstieg am Nanga Parbat?
Nein es war der Entschluss, gemäß meinen Wünschen, Vorstellungen und Träumen zu leben und nicht nach denen meiner Eltern, Lehrer oder Brüder. Ich habe mich nicht in eine bürgerliche brave Welt zwingen lassen. (RM 2004, 255)

Den Leidenschaften folgen und radikale Umorientierung im Leben vornehmen – der TH Anker hilft dabei, nicht ein Karriereplan

Interviewer: „Was raten Sie Leuten, die mit voller Leidenschaft eine Sache vertreten, aber keinen Erfolg haben?
Natürlich muss ich Talent für meine Sache haben. Was mir nicht liegt, begeistert mich nicht. (…) Normalerweise verliert man mit Handicaps an Leidenschaft. Als wir damals am Nanga Parbat die Zehen abgefroren habe und nicht mehr so gut klettern konnte, ist mir diese erste Leidenschaft abhanden gekommen. Sie begannen zu vergehen. Zum Glück aber habe ich etwas anderes entdeckt und an die Stelle der alten Leidenschaften gestellt: das Höhenbergsteigen. Es war auch später immer wieder von Vorteil, dass ich umsteigen konnte. Immer zum richtigen Zeitpunktzeit. In meinem Leben habe ich meist rechtzeitig gemerkt: Das bringt nichts mehr, ich brauche etwas Neues“. (RM 2004, 263)

Ans Limit gehen

„Das heißt, immer wenn ich in einem Spiel das Limit meiner Möglichkeiten erreicht hatte - nicht das allgemeine Limit, obwohl dieses mit meinem ab und zu parallel lief –, dann habe ich etwas Neues gewagt. Immer etwas, was mich neugierig gemacht hat, was mich angeregt hat, besser zu werden. Mit zunehmendem Alter bin ich am Ende umgestiegen auf kulturelle Lebensäußerungen, nicht mehr alleine auf psychophysische Grenzgänge.“ (RM 2004, 297)

Getriebensein

Interviewer: „Empfinden Sie dieses ständige Getriebensein, diese Unfähigkeit, gelassen zurück zu blicken, als Mangel?
Nein, als Glück. Ich könnte das Leben anders kaum aushalten und weise kann ich später noch werden. Eine letzte Hoffnung.“ (RM 2004, 264)

Ungeduld

Interviewer: „Gibt es Eigenschaften an sich, die sie gerne ändern würden?
Meine Wutausbrüche gelegentlich, meine Ungeduld. Wenn ich mir mehr Zeit lassen würde, es lösten sich viele Probleme von selbst. (RM 2004, 264)

4. Was ermöglicht das Zusammenwirken dieser drei Triebkräfte?

Aus meiner Erfahrung als Beraterin, die seit über 30 Jahren Karriereberatung macht, und als Wissenschaftlerin, die diese Triebkräfte untersucht hat, weiß ich, dass Triebkräfte gegeneinander wirken und sich wechselseitig behindern können, sich aber auch wechselseitig befördern und Synergien schaffen können. Ich konnte harmonische und weniger harmonische Kombination finden und beschreiben.

Zusammenwirken der Triebkräfte

Die Kombination der von mir entdeckten Triebkraft Entdecken mit den bekannten Triebkräften Selbstständigkeit und Unabhängigkeit und Totale Herausforderung bilden eine harmonische Einheit. Sie stören sich nicht gegenseitig, sondern unterstützen und fördern sich gegenseitig.

Totale Herausforderung: Um entdecken zu können, muss ich mich Herausforderung stellen können, die andere für unlösbar halten, Unmögliches angehen, ans eigene Limit gehe. TH liefert Energie für Neuanfänge, und hilft dabei, Bewährtes infrage zu stellen, wenn es sich wiederholt und langweilig wird.
Diese Triebkraft liefert ihm die Energie und die Motivation, sich erneut die Anstrengungen des Entdeckens auszusetzen, dient also dem Entdeckeranker. In Kombination mit seinem ausgeprägten Willen und seiner Berufung gelingt es ihm weitere Projekte zu planen und erfolgreich abzuschließen. Umgekehrt liefert die Triebkraft Entdecken der Totalen Herausforderung Anlässe und Ziele, sich zu zeigen und ausgelebt werden zu können.

Selbstständigkeit und Unabhängigkeit: Um Innovationen erzeugen zu können, um sich von bestehenden Regeln des Bergsteigens und Kletterns lösen zu können und eigene zu erfinden, muss er sich von anderen unabhängig machen. Um unabhängig von anderen seiner Praxis Sinn geben zu können und auch um die Einsamkeit und die alleinige Verantwortung bei diesen Touren tragen und lebenswichtige Entscheidungen treffen zu können.

Die Triebkraft des Entdeckens gibt diesen beiden anderen Triebkräften Sinn und Ziel, sie existieren nicht um ihrer selbst willen, sondern werden gebraucht um die Entdeckungspraxis zu ermöglichen.

Diese Kombination von Triebkräften liefert Energie, sie verbraucht keine und sie stört ihn nicht bei seinen Entdeckungen.

Es gibt Kombinationen von Triebkräften, die in starker Spannung zueinanderstehen und deshalb viel Energie und Aufmerksamkeit verbrauchen. Hätte er zum Beispiel die Triebkraft Sicherheit und Beständigkeit statt Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, würde dies einen Dauerkonflikt mit der Totalen Herausforderung und dem Entdecken provozieren.

Vielleicht ist hier eine Erklärung für die enormen Erfolge und Leistungen von Reinhold Messner, zu denen sein Überleben gehört, zu finden. Er konnte leichter als andere, mit sich im Reinen und ungestört von inneren Spannungen zwischen seinen Antrieben diese Grenzgänge bewältigen und war zudem in der Lage, sich zu beobachten, dem Wirken seiner Menschennatur Raum zu geben und sie wahrzunehmen.

5. Karriereplanung und Berufsfindung bzw. finden der Berufung

Wie alle anderen Entdecker und Entdeckerinnen auch strebt er keine vorgegebene Karriere an und folgt nicht den Karrierepfaden in Institutionen oder Organisation oder den Ratschlägen seiner sozialen Umgebung (3. Merkmal von Entdeckerkarrieren). Das Bergsteigen ist zur damaligen Zeit kein Beruf, davon kann man nicht leben. Eine schwierige Situation für ihn.
Merkmale von Entdeckerkarrieren

Berufliche Perspektiven

„Ich hatte als Kind nie Angst vor der Enge (Gemeint ist die des Tals, KRG). Im Gegenteil. Auch keine Angst, zu verhungern oder dass ich nicht zurechtkäme. Irgendwie kamen ja alle Leute zurecht auf irgend eine Weise. Die Sorgen wurden uns eingeimpft, die Angst kam von außen, später: »Wenn du nicht fertig lernst, dann hast du kein Beruf. Wenn du nicht tust, wie man dir sagt, dann wird nichts aus dir. Wir haben ja keinen Bauernhof, du kannst also nicht bleiben und deine Kühe züchten.«“(. RM 2004, 22-23)
Seine Mutter schreibt: „Wollte als Bub Bauer werden“ (RM 2014, 16)
Sein Großvater väterlicherseits war Kleinbauer in St Magdalena .
„Wenn ich als Vierjähriger in den Sommermonaten bei ihm wohnte, nahm er mich oft zum Bienenhaus mit, das auf der anderen Seite des Baches lag, an der Sonnenseite, etwas höher als der Hof. Wie mein Großvater legte ich die Hände auf den Rücken und schwieg neben ihm her. Wir gingen wie zwei Bauern. Ja Bauer wollte ich damals werden, und sonst nichts. Alle in unserem Tal, die etwas galten, waren Bauern. Und die größten Bauern verdienten den größten Respekt. Bauer war kein Beruf, eher ein Zustand; und die Familien in Villnöß, die keinen Hof hatten zählten weniger – mit Ausnahme des Pfarrers, der mit dem Teufel drohte, um Gehör zu finden.“ (RM 1992, 11)

In dieser Zeit, bevor er anfängt zu klettern, will er also Bauer werden wie sein Großvater, was er dann ja später in Juval als Bergbauer und Selbstversorger auch tut. Dessen Sohn, Messners Vater, der Hoferbe, hat das Erbe nicht angetreten hat und ist Lehrer geworden. Nimmt man die Mehrgenerationenperspektive ein, wartet auf die Enkel bei solch unterbrochenen Linien die Aufgabe den Bruch zu heilen.

Mit fünf Jahren fängt er an zu klettern und begeistert sich dafür. Er hat großes Talent dafür und die Idee zu klettern kommt früh und hat eine mächtige Triebkraft (1. Merkmal von Entdeckerkarrieren). Er entwickelt dabei einen großen Eifer darin und entwickelt sein ‚eigenes Curriculum‘ um das Klettern zu lernen (2.Merkmal von Entdeckerkarrieren). Er weiß aber, dass man von dieser damals im Dorf als nutzlose Tätigkeit angesehenen Bergsteigerei nicht leben kann.

Interviewer: “Was dachten Sie mit zwölf Jahren, wird später Ihr Beruf?
Ich hatte damals keinen Berufswunsch, keine Vorstellung vom Leben, keine Karriereplanung. In die Geometerschule, wo ich zu einer Art Bauingenieur ausgebildet wurde, kam ich nur, weil ich gut in Mathematik war. Technische und naturwissenschaftliche Fächer lagen mir. Ich selber hatte nicht den Wunsch, Ingenieur zu werden. Vielleicht Architekt.
Nein, ich wollte nicht Bergsteiger werden. Weil das kein Beruf ist. Bergsteiger konnte ich also nicht werden. Mein Leben war unvorstellbar. Ich habe mir allenfalls mit 16-18 das Leben erträumt, dass ich später geführt habe. Gegen alle Widerstände und Selbstzweifel am Anfang.
Interviewer: und das war?
Ich wollte Abenteurer bleiben, eine Art Selbstversuch, aber nicht im Sinne eines Forschers. (…) Ich wollte immer in die letzten Wildnisgebiete. Wohin die anderen nicht so leicht kommen (…) Es war eh klar, es geht nicht. Niemand kann von der Eroberung des Nutzlosen leben.“ (RM 2004, 37-38)

Er klettert oft zusammen mit seinem Bruder Günther, was ihn offensichtlich mehr interessiert als der Schulabschluss und fällt 1966 durch das Abitur und auch durch die Nachholprüfung. Sein älterer Bruder Helmut besorgt ihm einen Job als Hilfslehrer für Mathematik. Ein Jahr später legt er das Abitur als ‚Privatist‘ ab. Er macht mehrere Erstbegehungen und beginnt 1968 parallel ein Studium des Hoch- und Tiefbaus, um Ingenieur zu werden an der Uni Padua. Wegen mehrerer Expeditionen in die Anden besucht er bald keine Vorlesungen mehr und legt kein Examen ab. Er kehrt nach Südtirol zurück, arbeitet in seinem Lehrerberuf und trainiert für die Expeditionen.

Die Karriere als Profibergsteiger

Zurück aus den Anden besteigt er im Mont-Blanc-Gebiet die schwierigste Eiswand der Alpen.
“Das hat mich in Frankreich bekannt gemacht, hat mir den ersten Werbevertrag eingebracht. Es war der Anfang einer Profi-Karriere.“ (RM 2004, 59)

An Karriere habe ich nicht gedacht. Dass ich in diesem Augenblick einen bürgerlichen Lebensweg endgültig aufgegeben habe, ist wichtiger. Ich war an der Uni ja völlig unglücklich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich versäume mein Leben. Indem ich mit allem guten Willen versuchte, meinen Ingenieur zu machen, zwang ich mich zu etwas, was ich nicht wollte.“ (58)

1970 kann er an einer für ihn folgenschweren Expedition zum Nanga Parbat teilzunehmen. Sein Bruder Günther kommt dabei um, der erst 26 Jahre alt ist. Die Umstände seines Todes bleiben über lange Zeit unklar, Überreste seiner Leiche werden erst 35 Jahre später gefunden und die Frage von Messmers Schuld an dem Tod seines Bruders bewegt die Öffentlichkeit, nicht nur die der Bergsteiger. Im Jahr danach kehrt er ins Diamirtal zurück um nach seinem Bruder zu suchen, seine Lebensgefährtin Uschi Demeter begleitet ihn.
Messner selbst müssen wegen Erfrierungen die Zehen und Fingerkuppen amputiert werden, er kann nicht mehr Felsklettern und entscheidet sich für das Höhenbergsteigen, eine große Umorientierung in seiner Entdeckerkarrieren. Doch nicht nur das. 1971 Messmer gibt seinen Lehrerberuf und sein Studium endgültig auf, er hat sich für das Bergsteigen entschieden. Er hält Vorträge darüber und schreibt Bücher und arbeitet als Bergführer, um sich eine ökonomische Basis zu sichern.

Dieser Mix ist sein ‚Beruf‘, das Entdecken bleibt seine Berufung! Die Komponenten dieser Komposition wechseln in den verschiedenen Lebensphasen, aber es bleibt immer eine Komposition artverschiedener Elemente.

Nach der Besteigung des Mount Everest mit Peter Habeler ohne künstlichen Sauerstoff 1978 und dem damit verbundenen weltweiten Ruhm ist die Finanzierung weiterer Projekte und seines Lebens durch Werbeverträge und Ähnliches gesichert.

1973 heiratet er Uschi Demeter und lässt sich in Sankt Magdalena, wo sein Großvater lebte(!), nieder, kauft das Pfarrhaus dort und renoviert es. Die Ehe zerbricht und er fährt mit Nina Holguin, eine Kanadierin, nach Tibet, wo ihre Tochter Leyla 1981 geboren wird. Das Pfarrhaus im Villnößtal verlässt er nach 10 Jahren schweren Herzens, dort wird er mehr und mehr von Schaulustigen bedrängt. Nach einer etwas längeren Suche nach einer passenden Bleibe, „einem Adlernest für einen Halbnomaden“ (RM 2004, 229) stößt er per Zufall auf die uralte Burganlage Juval in der Nähe von Meran und kauft 1983 die auf einem Felsen über dem Tal thronende ziemlich verfallene Burg, die in Teilen bereits zu einem Schloss umgebaut wurde. Er renoviert sie über Jahre und baut dort auch seinen Bauernhof auf, verwirklicht also auch seinen ersten Berufswunsch Bauer zu werden und betreibt Landwirtschaft zur Selbstversorgung.
„Es war mir von Anfang an klar, dass ich Bergbauer bin und nach Juval gehöre. Jeder hat seinen Platz“ (RM 1992, 30)

Als „Halbnomade“, der durch die Welt zieht, entdeckt und wie er sagt „die Gefahr zu seinem Beruf gemacht hat“ und sich dann wieder auf Juval konzentriert und Kraft für zukünftige Reisen sammelt, justiert er sich (RM 1992, 230).

6. Die Lebensphasen nach Klettern und Höhenbergsteigen - seine Fähigkeit zu radikalen Umorientierungen in seiner Karriere

Reinhold Messner verfügt über die bemerkenswerte Fähigkeit, in seiner Karriere immer wieder radikale Umorientierung vorzunehmen. Was ihm dabei nützt, sind die drei Triebkräfte seiner Karriere: Entdecken, Totale Herausforderung sowie Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Letzterer macht ihn von den Meinungen anderer unabhängig und wohl auch von den Einkommen, die er mit den jeweiligen Tätigkeiten erwirtschaftet, Geld und Besitz ist ihm nicht so wichtig. Der Anker Totale Herausforderung lässt ihn Innovationen, neue Ideen prämieren, die er auf Kosten des Bewahrens von Tätigkeiten, Lebensphasen u.ä. mit großer Energie, starkem Willen, mit Selbstvertrauen, Neugier und Mut verfolgt. Ein Bedürfnis nach Sicherheit hat er bei der Karrieregestaltung nicht.

Konstant bleibt auch sein Entdeckeranker mit dem das Ziel die Menschennatur im Verhältnis zur wilden Natur zu entdecken, modifiziert werden die Objekte und die Medien ändern sich.

In den ersten Phasen seines Lebens prämiert er in seiner Entdeckerpraxis die Dimension Unbekanntes entdecken und Neues erfinden. Die Höhenkletterei endet etwa Mitte der achtziger Jahre. Es folgen Durchquerungen von Wüsten aus Sand, Felsen und Eis und von Ländern, andere Formen der Grenzgänge, die er sucht. Seit den siebziger Jahren schreibt er Bücher, 1995 macht er das von ihm bewohnte Schloss Juval als Museum der Öffentlichkeit zugänglich. Er schreibt Bücher und macht 1999 seinen ersten Film. Ab etwa 2000 besucht er Bergvölker.

In den folgenden Lebensphasen wird die dritte Dimension der Entdeckungspraxis, das Gründen prämiert.
Er schenkt seiner Heimat Tirol sechs Museen, die Messner Mountain Museen, die die Geschichte des Bergsteigens und die Menschnatur der Bergvölker an sechs herausgehobenen Orten Südtirols präsentieren. Er gründet die Messmer Mountain Foundation, die Hilfe zur Selbsthilfe für die Bergvölker in Form von neu gebauten Häusern, Schulen, Krankenhäusern, Fluthilfe geleistet hat und ein Sherpa Museum. Mit Messner Mountain Movie hat er als Produzent und Regisseur bisher 16 Filme geschaffen. Die Messmer Mountain Heritage hat die Aufgabe den traditionellen Alpinismus zu erhalten. Als selbstständiger Veranstalter hält er Vorträge bietet Incentives und Managementschulungen sowie Veranstaltung verschiedener Art an. Ist also nicht nur ein erfolgreicher Gründer, sondern auch ein erfolgreicher Unternehmer.
Die Eintrittskarate von Juval

Ein frühes Beispiel für radikale Entscheidung ist die Umorientierung vom alpinen Klettern auf das Höhenbergsteigen nach der neuen Nanga Parbat Erstbegehung. Damit verbunden war Anfang der siebziger Jahre die Entscheidung gegen eine berufliche Karriere als Ingenieur, er brach sein Studium zugunsten einer Bergsteiger-Karriere als Profi ab, für die es damals wenige Vorbilder gab. Als er als Höhenbergsteiger alles erreicht hat, was man erreichen konnte, orientiert er sich wieder um.
„Als wir damals am Nanga Parbat die Zehen abgefroren habe und nicht mehr so gut klettern konnte, ist mir diese erste Leidenschaft abhanden gekommen. Sie begann zu vergehen. Zum Glück aber habe ich etwas anderes entdeckt und an die Stelle der alten Leidenschaften gestellt: das Höhenbergsteigen. Es war auch später immer wieder von Vorteil, dass ich umsteigen konnte. Immer zum richtigen Zeitpunktzeit. In meinem Leben habe ich meist rechtzeitig gemerkt: Das bringt nichts mehr, ich brauche etwas Neues. (RM 2004, 263)

Engagement für den Erhalt der Wildnis

„In dieser späten Phase meines Lebens dachte ich mehr und mehr über eine andere Dimension von Wildnis nach."
Jetzt erkannte ich die relative Bedeutung von Erfolgen und stellte andere Werte in den Mittelpunkt meines Interesses: Stille, Weite, Unzugänglichkeit – so wie sie Mallory erfahren hatte. Auch meine Helden waren dadurch andere geworden: George Lee Mallory, Fridjof Nansen, der den Nordpol nicht erreicht hat, oder Ernest Shakleton, der bei allen seinen Touren gescheitert ist. Wie aber sein vorbildliches Leadership alle Rückzüge aus der Wildnis der Antartkis gelingen ließ, ist zweifellos spannender alle Erfolge anderer Abenteurer. Nur wenn Teile der Erde unberührt blieben, würde es ähnliche Reisen auch in Zukunft geben. Jetzt wusste ich endgültig, dass der Grenzgang mit der verschwundenen Wildnis abhanden kam.“(RM 2004, 168)

Er durchquert die Eiswüsten des Nord- und Südpols, Grönland, die Länder Tibet, Bhutan und Pamir zu Fuß, das Altaigebirge, die Atacama in den Anden und die Wüste Thar in Indien. Er beginnt, sich für die Menschen, die in den Bergen und in anderer Wildnis leben, zu interessieren. Das Ergebnis dieses Interesses und seiner Sammelleidenschaft sind die Museen über die Menschennatur und Religion der Bergvölker, die Messner Mountain Museen MMM. Die dritte Dimension des Entdeckens wird immer bedeutsamer, das Gründen.

Das Entdeckte anderen vermitteln, zum Teil der Kultur werden lassen

Aus dem individuellen Sinn des Entdeckens soll ein kultureller Sinn – das Erkennen der Menschennatur werden:

Für mich ist das Bergsteigen heute eine kulturelle Auseinandersetzung zwischen Menschennatur und Bergnatur. Eine kulturelle Angelegenheit also!" (RM 2004, 292-93)
"Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich alles, was ich weiß oder nicht weiß, in einem Museum packen und mich so besser als mit anderen Mitteln ausdrücken kann." (RM 2004, 236)
Mir geht's um die Natur des Menschen, weniger um den Berg. Im Museum habe ich mehr Mittel zur Verfügung - Kunst, Texte, Musik und Geräusche -, viel mehr Möglichkeiten als mit irgendeinem anderen Medium. Mir geht es primär um das, was im Menschen passiert, wenn er sich dem Berg nähert. Wer hinaufsteigt, kommt als ein anderer zurück. Nicht der Berg ändert sich mit unserem Hinaufsteigen, wir selbst werden anders. Am Berg selbst passiert ja nicht viel, außer wenn wir dort Hütten, Wege, Straßen, Seilbahnen oder andere Infrastrukturen bauen. Da oben fallen alle Masken, und sogar unten, hinterher, zeigt der Bergkamerad sein wahres Gesicht. Neid, Eifersucht, Habgier brechen sich häufig erst Bahn, wenn der selbst ernannte gute Kamera zurück ist, zurück bei seinesgleichen. Diese Wahrheit sowie die unserer Geschichte und gemeinsame Leidenschaft wird in meinen Museen reflektiert. (236)

Mit zunehmendem Alter bin ich am Ende umgestiegen auf kulturelle Lebensäußerungen, nicht mehr alleine auf psychophysische Grenzgänge.“ (RM 2004, 297)

"Was mich stark macht, ist das Gefühl unabhängig zu sein. Dabei bin ich nur ein Dilettant. Ich habe in lauter Nicht-Berufen gelebt, geforscht gearbeitet. Oft habe ich trotzdem gegen alle Prophezeiung Erfolg gehabt. Mit sehr einfachen Verhaltensmustern: Bei einer Sache bleiben und mit aller Kraft für diese Sache einstehen. Die Leidenschaft für ein noch so unnützes Tun hat mich stark gemacht und gibt mir zuletzt jene Sicherheit, die Voraussetzung ist für ein selbstbestimmtes Leben. (RM 200, 263)(Zusammenspiel der Triebkräfte SU,TH und Entdecken)

„Vielleicht ist die Fähigkeit, dem Alter entsprechend immer wieder neue Aufgaben zu finden, ein Teil des Glücks, das mich ‚jung‘, kreativ und lebensfroh macht.“ (RM 2004, 284)

Interviewer: In diesem Jahr werden sie 70 Jahre alt. Wie fühlen Sie sich? (2014, KRG)
Zeitlos (…) Die Neugierde ist geblieben. Ein gutes Gefühl. (…) Ich muss lernen, mit dem Altern zurechtzukommen. (…) Ich muss nichts mehr beweisen. (…) Und dann möchte ich noch einen Film machen, ein paar gute Geschichten, vielleicht auch eine Erzählung schreiben, noch einmal von vorne anfangen mit einer Idee… mein siebtes Leben. Es wird keinen Stillstand geben und mit dem Scheitern habe ich leben gelernt. Gelernt habe ich vor allem dann, wenn ich gescheitert bin. Ich bin wohl öfters gescheitert als die allermeisten anderen und nur deshalb erfolgreich geworden auf der Suche nach dem Limit. Immer wieder." (268)

Zitat aus einer Passage über seinen Bruder Hansjörg, dem Psychoanalytiker:
Interviewer: „Waren Sie denn mal beim Analytiker?
Nein ich glaube nicht an eine solche Heilung. Ich halte Analyse zwar nicht für Blödsinn, aber wozu? (…) Wenn ich meinen Leidenschaften nicht folgen darf, mein Leben nicht leben, kann mir kein Psychologe helfen. Das eigentliche Problem ist, dass die meisten Menschen nicht ihr Leben leben. Die leben irgendwie daneben hin. Ich folge der Genetik, nicht den Ratschlägen der Zauberer!" (RM 2004, 276f)

"Es gibt am Ende kein gelungenes Leben. Ein gelingendes Leben aber gibt es während des Tuns. Wenn ich Momente erwische, in denen ich Schwierigkeiten überwinde, bin ich stark und ausgefüllt. Mein Erfolg, mein Leben war nichts anderes, als aus Ideen Tatsachen gemacht zu haben.(Triebkraft TH, KRG)
Interviewer Sie sprechen von sich schon in der Vergangenheit?
Ja, ich muss ja gar nichts mehr machen! Trotzdem werde ich meine Zeit weiterhin damit ausführen, Ideen umzusetzen. Ich kann nichts anderes." (RM 2004, 281)

Im September diesen Jahres, in dem er 80 Jahre alt wird, wird ein neues Buch von ihm erscheinen „Gegenwind“, wenn ich richtig gezählt habe, das 72. Er ist auf einer sehr lange dauernden Tournee mit seinen Vorträgen usw. Er hat es also geschafft, weiter nach seinen Maximen zu leben und seinen Triebkräften zu folgen.

„Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher,
als Internet-Analphabet erzähle ich vor allem live von meinem Leben als Bergbauer, Bergsteiger, Museumsgestalter, Filmemacher. Ich habe mein siebtes Leben angefangen, nachdem ich mich sechsmal neu erfunden habe und erzähle mein Leben fort. Nach meiner Zeit als Felskletterer, Höhenbergsteiger, Grenzgänger in Polarregionen und Wüsten, Forscher, Politiker und Museumsideator bleibe ich Storyteller und Bewahrer der letzten nicht urbanisierten Räume dieser Erde. Mir geht es um das Verhältnis Menschennatur und Wildnis, um Eigenverantwortung und Erfahrungen am Rande unserer Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zuletzt.“ (www.reinhold-messner.de Startseite Zugriff 25.3.24)

7. Die die im Tal bleiben und die die gehen – Erkenntnisse über das Südtiroler Bergvolk by the way

Er ist Angehöriger dieses Bergvolks, die Ambivalenz zwischen nicht dazugehören wollen und dazu zu gehören wie auch die Beziehung zu seiner Heimat prägen manche Phase seiner Biografie.

Hoch droben sein, über den Menschen, die im Tal leben, in einer Außenwelt, die wie er sagt, mehr seinen Gefühlen entspricht als das Leben im Dorf (RM 1992, 20), ist für ihn offenbar seit seiner Kindheit von großer Bedeutung. Die Natur sagt er, kennt keine Gesetze und Regeln, aber die Menschen.
Das Tal verbindet er mit Enge, Begrenztheit, Beschränkung seines Freiheitsdrangs (Triebkraft SU). Es steht für die Autoritätsgläubigkeit, die verlogene Moral, den Betrug, das Zurechtbiegen der Realität, die Ausgrenzung von Andersdenkenden, die er dieser sozialen Gemeinschaft erlebt hat (RM 1992, 20). Das Tal erfährt in den 80 Jahren seines Lebens die zunehmende Zerstörung der Landschaft durch extensiven Obstanbau, den extensiven Bau von Hotels und den immer weiter anwachsenden Tourismus. Schon in der neunziger Jahren sind auch die Orte in den Bergen keine mehr, für die er ein Heimatgefühl entwickeln kann, auch diese Höhen hat der Tourismus erobert: Die Ruhe und die Stille sind dahin, die den Wert der Alm von Geschmagenhart, wo sie als Kinder ihre Sommer verbracht haben, ausmachte. (RM 1998, 29).

Tibet als Spiegel seiner Kindheit - in der Fremde die Heimat erkennen

Auf seinen Reisen gewinnt er eine Perspektive von außen auf Südtirol und begreift nach und nach, wie er sagt, die Eigenheit und das Sosein der Menschen dort, also die Menschennatur der Südtiroler. In Nepal erlebt er eine Gesellschaft und eine Natur, die wie ein Spiegel seiner Kindheit - die Stille der Natur und der Berge, das Spiel der Kinder, die Einfachheit bis Armut des Lebens der Menschen - auf ihn wirkt und in ihm den Wunsch weckt, ein Zuhause in Südtirol zu finden. (RM 2004, 24). Dazu machte er die Burganlage Juval inmitten der Bergnatur hoch über dem Tal der Etsch. Die Burg Juval ist eine gelungene Lösung für die Wahl zwischen Tal und Bergen: “Es verständlich, dass die Menschen hier per oben am Sonnenhang früher siedelten als unten in der schottrigen und sumpfigen Talsohle.“ (RM 1998, 15)

Auch für seinen Bruder Hubert bringt das ‚“Verlassen des Tals“ das Schauen hinter die Berge Tirols (HM 2023, 15) durch eine erste Reise nach Irland als Achtzehnjähriger das Gefühl von Freiheit. Mit ihm teilt er auch die Liebe für die Bergbauernarbeit, die der erfolgreiche Arzt immer wieder in seinem Leben sucht, die Ablehnung des zerstörerischen Tourismus, der St. Magdalena, das Dorf ihres Großvaters zu einem Hotspot für Selfie-Tourismus hat werden lassen, und den Hang zur Rebellion gegen die bestehenden Verhältnisse. Mittlerweile pensioniert engagiert sich Hubert Messner als Politiker in Südtirol.

Das Tal und die Welt draußen spielen auch für den Bruder eine Rolle. “Als wir noch im Dorf zur Grundschule gingen, haben wir von der Welt da draußen nichts mitbekommen. Das Radio machte Vater erst an, wenn wir schon in den Betten waren. (…) Dann, in den Gymnasien in Bozen, Brixen, Meran, drang zu uns durch, was in der Welt geschah. (…) Im Dorf war der Unmut zu spüren. Der Unmut jener, die dageblieben waren, gegenüber denen, die fortgegangen waren. Die Angst vor Veränderung, die wir Studenten auslösten, wenn wir unser Wissen mit ins Tal brachten. Weil Veränderung stets alles durcheinanderbrachte. Wer wegging – was ja schon schlimm genug war –, sollte zumindest auch wegbleiben! Nicht mit dummen Ideen zurückkommen und das Tal aufwiegeln.
Die Menschen im Tal lebten von der Zuversicht, dass immer alles so blieb, wie es – scheinbar – immer schon gewesen war. Die Berge, die das Tal umzingelten, wurden als Schutzwall gesehen. Damit nichts Böses von außen reinkam. Wir Jungen, die wir wegwollten, sahen die Berge als Hindernis, das es zu überwinden galt. Um dem Mief der Idylle zu entkommen“ (HM 2023, 54-55)

Die Südtiroler haben nach dem Ersten Weltkrieg schreckliche Erfahrungen mit dem im Tal bleiben oder weggehen gemacht, als Südtirol an Italien fiel und sich die Menschen vor die Wahl gestellt sahen auszuwandern, wenn sie Deutsche bleiben wollten, oder zu bleiben, diese Zeit haben seine Eltern erlebt. Die von seinem Bruder geschilderte Reaktion auf das Weggehen mag auch mit dieser bewusst und unbewusst wirksamen Erfahrung zusammenhängen.

Reinhold Messmer hat in seiner Heimat zunächst viele Anfeindungen erlebt, trotz seiner Erfolge. Sein Engagement für Südtirol, z.B. durch dessen Umrundung auf den Landesgrenzen zusammen mit Hans Kammerlander, die er verbunden mit seinen Einsichten über dieses Land und seine Bewohner in einem Buch dokumentiert hat, bringen ihm nicht nur Freunde (RM 1992). Auch sein Engagement als Mitglied des Parlaments der Europäischen Union, der sich für Südtirol und andere Regionen eingesetzt hat, wurde nicht nur gewertschätzt. Die großzügigen Geschenke an sein Land in Form der sechs Museen, die sich zu einem Anziehungspunkt für Touristen entwickelt haben, seine Bekanntheit und sein fortgesetztes Engagement für Südtirol haben ihm mit den Jahren Respekt und Anerkennung eingebracht. Beigetragen hat dazu sicherlich auch die „Veränderung der Bergnatur des Südtiroler Volks“. Durch den Zuzug von Italienern und die politischen ökonomischen und kulturellen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten hat sich eine andere Mentalität entwickelt. Von seiner Seite aus beigetragen hat sicher auch die Veränderung seines Verhältnisses zur Heimat und die von ihm gefundene Lösung des Halbnomadentums.

Halbnomadentum – eine kluge Lösung

Räume zum Leben, welche braucht er? Nomadentum, Sesshaftigkeit und Mischformen hat er auf seinen vielen Erkundungen in der Welt als Lebensform der Menschen erlebt.

„Ein Halbnomade ist jemand, der von einem Winterplatz ausherumzieht. In den Frühlings-, Sommer-und Herbstmonaten ist er mit seiner Familie, seinen Tieren, mit Hab und Gut unterwegs. (…) Im weiteren Sinn hat das Halbnomadentum heute auch wieder in unserer Zivilisation Einzug gehalten. Wir haben irgendwo einen sicheren Platz und fliegen, fahren, reisen in der Weltgeschichte herum. Wenigstens einige von uns.“ (RM 2004, 221)

Halbnomade sein, bedeutet unabhängig zu sein. (ebenda, 223) (Triebkraft SU)
1979 habe ich angefangen, eine Burg zu suchen. (…) Ich suchte da eine Art Adlernest, den perfekten Wohnsitz für einen Halbnomaden wie mich. (ebenda, 229)

„Durchgangsräume, wo Heimat nicht möglich ist, sind meine Welt, definiere ich mich doch als Halbnomade. In Südtirol brauche ich einen Rückzugsort, wenn ich zurück bin aus Eiswüsten oder großer Höhe, um später wieder gegen Kälte, Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit ansteigen zu können. In den Bergen sind meine Wege nicht als sichtbare Linien zu begreifen, es sind Linien nur im Kopf. Wildnis, Felswände und Wüsten aber sind Durchgangsräume, die als Entsprechung unserer Projektion Kunst zulassen, ohne Heimat zu werden.
Meine Landkarte hat deshalb mit Ausgesetztsein, Raum-Zeit und Eigenverantwortung zu tun. Auch Erinnerungsbilder gehören dazu. Jedes Unterwegssein ist wie ein Leben für sich, ein Draußensein auf einem anderen Stern.“ (ebenda 220)

Schluss
Viele Stränge seiner Biografie habe ich hier vernachlässigt, zum Beispiel seine privaten Beziehungen zu seinen Ehefrauen und Kindern. Wie alle Angehörigen von Entdeckern müssen sie lernen, sich mit dieser Triebkraft, die mächtig ist und immer wieder Prioritäten zu ihren eigenen Gunsten und zuungunsten der dem Entdecker nahestenden Menschen fordert, zu arrangieren (4. Merkmal von Entdeckerkarrieren). Manchmal ist das gelungen, manchmal nicht. Seine Tochter Magdalena hat die Leitung der Museen übernommen. Mit seiner Frau Diane hat er ein Buch geschrieben über „Verzicht als Inspiration für ein Gelingen des Lebens“ und ein Projekt gestartet, weltweit das Erbe des traditionellen Alpinismus zu erhalten (RM und DM, Sinnbilder 2022). Auch die Beziehungen zu seiner Herkunftsfamilie, seinen Eltern, Brüdern und seiner Schwester habe ich nur dann thematisiert, wenn sie mir relevant für das Verstehen seiner Karriere als Entdecker erschienen. Die Mehrgenerationenperspektive auf die Biografien und Karrieren dieser außergewöhnlichen Familien wäre ein weiteres Kapitel, das mich reizt.

Verwendete Literatur
Die Aufzählung folgt den Erscheinungsjahren der Erstausgaben, um deutlich zu machen, in welche Reihenfolge er diese Bücher geschrieben hat. Die Seitenzahlen der zitierten Passagen stammen aus der zuletzt genannten Auflage. Beim Zitieren nutze ich die Jahreszahl der von mir benutzten Ausgabe und die Initialien RM, die anderen Autoren werden namentlich benannt.

Reinhold Messner: Der gläserne Horizont – Durch Tibet zum Mount Everest. BLV Verlagsgesellschaft München, Wien, Zürich 1982 Erstausgabe

Reinhold Messner: Rund um Südtirol. Piper Verlag München, Zürich 1992 Erstausgabe

Reinhold Messner: Die Freiheit aufzubrechen, wohin ich will. Piper Verlag München 1998 und 2001, 3. Aufl. 2017

Volker Caysa und Wilhelm Schmid, Hg.: Reinhold Messners Philosophie: Sinn machen in einer Welt ohne Sinn. Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 2002 Erstausgabe

Reinhold Messner: Mein Leben am Limit – Eine Autobiographie in Gesprächen mit Thomas Hüetlin. München 2004, Piper Verlag, 15. Aufl. 2020

Reinhold Messner: Mein Weg – Bilanz eines Grenzgängers. Piper Verlag München /Berlin 2006, und 2017, 3.Aufl. 2017

Reinhold Messer: Berge versetzen – Das Credo eines Grenzgängers. BLV Buchverlag München 2013, 7.Aufl., Jahr der Erstausgabe unbekannt.

Reinhold Messner: Überleben. Piper Verlag München 2014, 7.Aufl. 2014

Reinhold Messner: Dreizehn Spiegel meiner Seele. Piper Verlag München B, Berlin 2012, 2. Aufl. 2016

Reinhold Messner: und Diane Messner: Sinnbilder - Verzicht als Inspiration für ein gelingendes Leben. S. Fischer Verlag Frankfurt/M. 2022, 3.Aufl. 2022

Hubert Messner und Lenz Koppelstätter: Eine gute Zeit zu leben- Die Welt ist besser als wir denken. Ludwig Verlag München 2023 Erstauflage

Dokumentation
Mensch Messner! Leben am Limit. Ein Film von Bernd Reufels, ZDF 14.2.2023

Zeitschriftenartikel
Waltraud Kastlunger und ihre Brüder - Zeitschriften Artikel über RM Schwester in Brigitte am 09.04.2009
https://www.brigitte.de/woman/leben-lieben/familie/familien--waltraud-kastlunger-und-ihre-brueder-10219120.html

Unternehmensnachfolge Familie Messner: Vater Reinhold und Tochter Magdalena. 8. Dezember 2017, von Bernd Steinle. Der Artikel erschien im F.A.Z. Magazin vom 14.10.2017.

tar_081, id129, letzte Änderung: 2024-04-24 15:52:14

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