Die Entdeckerkarriere - Das Modell und die Merkmale


Gliederung

Das Triadische Modell der Entdeckerkarriere

Es kann kein allgemeingültiges Modell von Karriere geben, das für alle Gruppen berufstätiger Menschen Geltung hat. Ein Anlass, mich mit den Karrieren von Entdeckern zu beschäftigen war, dass die bislang vorhandenen Modelle den Karriereweg dieser Gruppe von Menschen nicht erfassen können. Sicher ist, dass man Karrieren nur aus dem Miteinander- Gegeneinander- und Nebeneinander von drei Dimensionen erklären kann.
Bislang habe ich drei Karrieretriaden entwickelt: Der Karriere von Berufstätigen, die in Organisationen arbeiten und angestellt sind. Diese Triade hat die drei Faktoren Lebensweg, Laufbahn, fachlicher oder professioneller Werdegang.

Karrieretriade

Die zwei parallel von mir entwickelten Karrieretriaden für die Gruppe der Unternehmerinnen und der Selbstständigen weist andere Faktoren auf.
Die Karriere von Unternehmerinnen ist das Produkt des Zusammen-, Gegeneinander- und Nebeneinanderwirkens der Entwicklung der Unternehmerpersönlichkeit, der Entwicklung des Unternehmens und der Entwicklung des Produkts oder der Dienstleistung.

Karrieretriade

Die Karriere von Selbstständigen ist das Produkt des Zusammen-, Gegeneinander- und Nebeneinanderwirkens der Entwicklung der Persönlichkeit des Selbstständigen, der Entwicklung der Dienstleistung bzw. des Angebots und der Entwicklung der Organisationsformen selbstständiger Tätigkeit.

Karrieretriade

Mehr zu den drei Karrieretriaden finden Sie in Wandel von Personen

Keine dieser drei Triaden ist geeignet, die Spezifik der Karrieren von Entdeckern zu erfassen, genau so wenig wie die von Künstlerkarrieren. Nimmt man die Faktoren der ersten Karrieretriade, Laufbahn professioneller Werdegang und Lebensweg, kommt man zu folgenden "Abweichungen".

Es gibt keine Laufbahn, keinen Karrierepfad für Entdecker in Organisationen!
Sie schaffen sich ihre eigenen Organisationen und Praxissysteme, ihre Position darin und ihren Weg von einem zum nächsten, man könnte auch sagen, sie schaffen sich ihre eigene Laufbahn.

Es gibt keinen vorgegebenen professionellen Werdegang für Entdecker!
Sie schaffen sich einen eigenen fachlichen Werdegang. Sie entwickeln ihr eigenes Ausbildungscurriculum und ihre eigene Arbeitsmethodik. Sie sind nicht auf eine Disziplin oder eine Profession festgelegt, sie schaffen Querverbindungen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, zwischen verschiedenen Formen der professionellen Praxis.

Es gibt keine Normalbiographien von Entdeckern!
Glück, Gesundheit, Zugehörigkeit zählt für sie nicht oder kaum. Die Entdeckung bestimmt das, was andere als Privatleben bezeichnen würden. Die Person, die Persönlichkeit wird auf die Entdeckung hin ausgerichtet, man könnte in manchen Fällen auch sagen zugerichtet. Das gesamte Leben wird dem Primat des Entdeckens untergeordnet und das Glück liegt im Entdecken.

Die beiden Triaden der Karriere von Unternehmern und von Selbstständigen scheinen auf den ersten Blick eine größere Übereinstimmung mit der Karriere von Entdeckern aufzuweisen, aber auch davon weichen die Entdeckerkarrieren ab.
Entdeckern geht es nicht darum, eine Dienstleistung zu produzieren, die Abnehmer findet, oder ein Produkt zu schaffen, mit dem sich Gewinne erwirtschaften lassen. Auch geht es ihnen nicht darum, ein Unternehmen oder eine Praxis aufzubauen, die sich erfolgreich am Markt behaupten kann. Ein Unternehmen zu gründen ist für sie nur ein Mittel zum Zweck, nämlich dem Zweck, an der Entdeckung arbeiten oder sie verbreiten zu können. Der Aufbau von organisationalen Strukturen hat nur dienenden Charakter für ihre individuelle Praxis des Entdeckens und sie scheuen sich, ihre Energie in deren Aufbau und Erhalt zu stecken, wenn es auf Kosten des Entdeckens geht. Ebenso wenig geht es ihnen darum, Erfindungen oder Entdeckungen auf den Markt zu bringen, um damit Geld zu verdienen, höchstes um damit die weitere Entdeckungspraxis und ihr Auskommen zu finanzieren.

Kann man ein wissenschaftliches Modell entwickeln, wenn die untersuchte Personengruppe, die Entdecker, keine Normalbiographien aufweisen, keine Laufbahnen, keine Ausbildungswege, weil sie Wandel durch disruptive Prozesse, also vernichten, erfinden und ersetzen prämieren und dadurch als Abweichung von anderen untersuchten Gruppen erscheinen?
Entdecken ist kein Beruf, sondern ihre Art zu leben. Im Vergleich zur Gruppe der in Organisationen arbeitenden Menschen, zu Selbstständigen und zu Unternehmern ist das Entdecken für sie ein existenzielles Bedürfnis, eine Lebensnotwendigkeit. Darin sind sie der Gruppe der freien Künstler, deren Karrieren ich ebenfalls untersucht habe, ähnlicher als den drei oben genannten. Ihre Arbeit ist aufs engste mit ihrer Persönlichkeit verknüpft, man kann sie nicht als sozialen Typus, sondern nur als Personen modellieren, was ein Problem für meine Forschung ist.
An diesem Punkt entziehen sie sich meiner wissenschaftlichen Analyse, eigentlich kann ich kein Modell der Entdeckerkarriere bauen.
In der Sprache der Supervisoren sagt man, es spiegelt sich im Hier und Jetzt – meiner Forschungspraxis – der Unwille von guten Entdeckern, sich in Strukturen, die sie nicht selbst geschaffen haben, einzupassen oder sich einer sozialen Gruppe zuzuordnen, sich als sozialer Typus aufzufassen. In der Beratung von Entdeckern ist dies kein Problem, denn dort emergiere sie als Individuen, als Persönlichkeiten in ihrer Einzigartigkeit.

Zum Spiegelungsphänomen
Mit diesem – im Übrigen überall entstehenden, meist aber nicht bemerkten – Spiegelungsphänomenen kann man so umgehen, dass man sie erstens erkennt, zweitens benennt und drittens für die Lösung anstehender Probleme nutzt. In der von Michel Giesecke und mir entwickelten "Kommunikativen Sozialforschung" nutzen wir diese auch in der Forschungspraxis emergierenden Phänomene systematisch. "Selbstwahrnehmung und –beschreibung des Forschungssystems" ist die vierte Phase des idealen Forschungsablaufs. Wir haben damals, wie Entdecker das tun, jenseits des eigenen Bereichs in der Supervision, die wir untersuchten und die ich gerade parallel zu meiner Tätigkeit im Forschungsprojekt erlernte, nach einer Lösung für dieses Problem gesucht.
Zur Kontrolle der eigenen Interpretationen und zur Verbreiterung der Datenbasis haben wir eine weitere Phase in den Forschungsprozess eingefügt, die "Datenrückkopplung an das untersuchte System (Hypothesentest, Triangulation)",die fünfte Phase des idealen Forschungsablauf.
Und das ist die Lösung für mein Problem:
Ich biete dieses Modell der Entdeckerkarriere den Entdeckern zur Begutachtung an: Nützen ihnen diese drei Dimensionen, um sich ihre Karriere erklären und sie beschreiben zu können? Dazu werde ich noch einige Rückkopplungsinterviews führen.

Wenn Sie mehr zu Spiegelungsphänomenen in der Forschung und Beratung lesen wollen


Artikel und Links zu ihrer Bedeutung in der Wissenschaft:
Was kann man aus dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Beratung für die Gestaltung kommunikativer Sozialforschung lernen? Gemeinsam mit Michael Giesecke:
Journal für Psychologie, Heft 3, 1998, S. 59-72
Was kann man aus der Beratung für die Forschung lernen

Zur Integration von Selbsterfahrung und distanzierter Betrachtung in der Wissenschaft
Gemeinsam mit Michael Giesecke
In: Wie kommt die Wissenschaft zu Wissen? Band 1: Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten. Hrsg.: Theo Hug. Innsbruck. Buch, CD-Rom und Internetversion 2001
Selbsterfahrung und distanzierte Betrachtung in der Wissenschaft

Hier der Hinweis auf unser Buch zur Kommunikativen Sozialforschung 1997
Kommunikative Sozialforschung KRG
Kommunikative Sozialforschung MG

Kurze Einführung in die Bedeutung von Spiegelungsphänomene in der Supervisions- und Beratungspraxis
Spiegelungsphänomene

Die von mir entwickelte Triade der Karriere von Entdeckerinnen hat die drei Faktoren:
Entwicklung der Entdeckerpersönlichkeit, Entwicklung der Entdeckungspraxis und Entwicklung der Praxissysteme des Entdeckens

Entdeckerkarrieren.jpg

Etwas als Entwicklung zu bezeichnen, setzt einen Bewertungsmaßstab voraus. Biografien und Lebensläufe lassen sich als Chronologie, das heißt Abfolge von Ereignissen in der Zeit beschreiben. Veränderungen diagnostiziert man, wenn man einen Faktor aussucht, zwei Zeitpunkte auf der Timeline der Chronologie aussucht und Unterschiede in der Ausprägung dieses Faktors feststellt, z.B. eine Veränderung von Gesundheit (von mehr zu weniger oder umgekehrt), eine Veränderung von mehr zu weniger Ideen oder Erkenntnissen etc. Bewertet man diese Veränderung mithilfe eines Maßstabes, dann kann man positive oder negative Entwicklungen feststellen. Da verschiedene Menschen unterschiedlicher Bewertungsmaßstäbe haben, fällt die Bewertung, ob eine Veränderung eine Entwicklung darstellt, unterschiedlich aus. So können die Einschätzungen des Entdeckers selbst und die anderer relevanter Personen von Veränderungen in seiner Biographie weit auseinander liegen.

Mehr zu unserem Modell von Lebensgeschichte als Ereignis-, Erlebnis- und Veränderungsgeschichte auf meiner Webseite
Wandeltriade

Der Bewertungsmaßstab von Ereignissen ihrer persönlichen und beruflichen Karriere ist für Entdecker: Dient diese Veränderung der Entdeckung? Bringt mich diese Veränderung dem Ziel meiner Entdeckung näher?

Es gibt kein gesellschaftlich festgelegtes Kriterium für die Bewertung einer Entdeckerkarriere wie beispielsweise für die Karrieren von Menschen in Organisationen. Hat die Person zum Zeitpunkt X die Position eines Sachbearbeiters inne, zum Zeitpunkt Y die Position Teamleitung oder Abteilungsleitung, so hat sie, legt man dem Bewertungsmaßstab des Aufstiegs in der von den Organisationen vorgegebenen Laufbahn, dem Karrierepfad, an, eine positive Karriereentwicklung geschafft. Eine positive Entwicklung innerhalb des professionellen Werdegangs in einem Beruf schafft derjenige, der die Stationen Lehrling, Gesellen, Meister oder gar Ausbilder von Meistern erfolgreich passiert hat; oder in einer akademischen Ausbildung den Bachelor für ein Fachgebiet, den Master, vielleicht noch die Promotion oder gar die Habilitation erfolgreich abschließt.

Ein Entdecker übernimmt keine Bewertungsmaßstäbe von Organisationen oder Professionen, sein Bewertungsmaßstab ist, dient es dem Prozess des Entdeckens und der Entdeckung oder nicht? Und das gilt sowohl für die eigene Person und den Lebensweg, als auch für die eigene Position innerhalb oder außerhalb von Organisationen und die daraus entstehende Laufbahn als auch für den fachlichen Werdegang.
So war es für Reinhold Messner Mount Everest Expedition der Bewertungsmaßstab: Schaffe ich es, den einzig möglichen Weg auf die Spitze des Mount Everest zu finden, für Kolumbus den Seeweg nach Indien zu entdecken, für Stefan Hell die Beugungsgrenze zu knacken, für Böttcher Gold zu machen und für Guttenberg die schönste und immer gleichbleibende Schrift zu entwickeln.

Nun mag es auf diesem Hintergrund verwunderlich klingen, von der Entwicklung der Entdeckerpersönlichkeit zu sprechen. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die persönlichen Wünsche und Sehnsüchte, die neben dem, die Entdeckung zu machen, existieren, mit einer großen Härte und Konsequenz dem Primat der Entdeckung untergeordnet werden, persönliches Glück finden sie oft eher nicht in persönlichen Beziehungen, sondern in der Praxis des Entdeckens. Das Picasso Zitat über seine Malerei: “Alles wird ihr geopfert – Du und jeder andere – einschließlich meiner selbst.“ und die Fallbeschreibungen zeigen das.

tar_06, id121, letzte Änderung: 2023-03-23 08:37:58

Die Merkmale von Entdeckerkarrieren - Der Entdeckeranker

Die vergleichende empirische Analyse der Autobiographien von und der Interviews mit Entdeckern hat sechzehn Merkmale von Entdeckerkarrieren ergeben. Diese Merkmale kennzeichnen den Idealtypus, sie müssen nicht in jedem Einzelfall zu finden sein.

Der Nutzen für Entdecker
Entdecker können die Liste nutzen, um die eigene Karriere zu reflektieren und die Triebkräfte und leitenden Werte zu analysieren und zu verstehen. Karriereberater und Coaches, die mit Entdeckern arbeiten, hilft sie die Besonderheiten von Entdeckerkarrieren zu verstehen und dieses Wissen in Beratung zum Nutzen des Klienten anwenden zu können. Berater sind meiner Erfahrung nach genauso wie Manager keine Entdecker.

Der Nutzen für die Beratung von Entdeckern
In der Karriereberatung arbeite ich mit dem Konzept und dem Tool der "Karriereanker", die Edgar Schein entdeckt und erfunden hat.
Schein definiert Karriereanker „als ‚das' Element im Selbstkonzept, das jemand keinesfalls aufzugeben gewillt ist."(Schein 1994). Karriereanker versteht er als eine Mischung aus Werten, Motiven und Fähigkeiten. Das Modell der Karriereanker ist bestens geeignet, Klienten dabei zu helfen ihre eigenen Werte zu erkennen, die handlungsleitend und orientierungsrelevant, ihnen in der Regel aber nicht bewusst sind. Andere Aspekte des Ankers wie Fähigkeiten werden im Konzept der Triadischen Karriereberatung®, das ich entwickelt habe, mithilfe anderer Tools erhoben.

Im Rahmen meiner Habilitation habe ich eine umfassende Analyse der acht von ihm benannten Anker und seines Konzepts durchgeführt und vorgestellt. Ein Ergebnis meiner empirischen Forschung war, dass es noch zwei weitere Anker gibt, die Edgar Schein aufgrund seines Samples - er hat Manager untersucht - nicht hat finden können, das sind der Künstleranker und der hier beschriebene Entdeckeranker. Dieses Ergebnis war der Anlass, ein Projekt zur Erforschung und Beschreibung des Entdeckerankers zu beginnen. Das Resultat ist diese Website, die weit mehr enthält als die Beschreibung eines neuen Karriereankers, deshalb heißt die Website auch nicht Entdeckeranker, sondern Entdeckerkarrieren.

Mehr zu den Karriereankern, ihrer Beforschung und ihrer Anwendung in der Praxis der Triadischen Karriereberatung® finden Sie auf meiner anderen Website im Menüpunkt "Triadische Karriereberatung" in "Forschungsergebnisse zu karrieresteuernden Werten"
Karriereanker
und in meinem Buch Triadische Karriereberatung

Für die Beratung von Entdeckern ist die Arbeit mit Karriereankern unabdingbar. Die Kenntnis der eigenen Anker hilft ihnen, die Antriebe für ihr Erleben und Verhalten zu verstehen, die sich nach m.E. in frühem Alter entwickeln - wie auch die Ideen für Entdeckungen - und sich nicht verändern oder verändern lassen. Karriereanker sind die Werte, die unsere beruflichen und auch privaten Entscheidungen ein Leben lang steuern. Man kann auf die Dauer nicht gegen die eigenen Werte handeln, sie wollen immer wieder 'bedient' werden, sonst werden die Menschen unzufrieden und unglücklich.

  • Anker mit Männchen 1.
  • Anker mit Männchen 2

Da man im meinem Konzept immer mit Wertetriaden, also der Kombination von drei Karriereankern arbeitet, und nicht mit einem einzelnen Anker, wie Schein das tut, ist der Entdeckeranker für Entdecker zwar der wichtigste, aber nur einer von dreien. Er tritt in Kombination mit "Selbständigkeit und Unabhängigkeit", mit "Totaler Herausforderung", "Dienst und Hingabe an eine Idee oder Sache" oder "Technisch Funktionaler oder anders formuliert Fachlicher Kompetenz" auf. In den Fallanalysen im letzten Menüpunkt werden Sie Beispiele für solche Ankerkombinationen finden. Die Beschreibung der genannten Karriereanker finden Sie mithilfe des Links auf meiner anderen Website.
Karriereanker

Merkmale von Entdeckerkarrieren und des Entdeckerankers

  1. Die Idee kommt früh, ist mächtig und hat eine große Triebkraft. Angeregt und angezogen durch Dinge oder Ereignisse in ihrer Umwelt entsteht in Ihnen eine Faszination, die die Energie liefert, eine ausgeprägte eigene Vorstellungswelt zu entwickeln, in der Ideen für etwas, was es zu entdecken gilt und was der Sinn dieser Entdeckung ist, entstehen kann. Sie sind häufig auch in der Lage Ihrer Entdeckerlust ein konkretes Ziel zu geben.

  2. Sie zeichnen sich schon in der Schulzeit oder im Studium durch einen großen Arbeitseifer aus, für ihre Umwelt teilweise besorgniserregend ist und bearbeiten ein Pensum, was weit über dem üblichen liegt. Sie schaffen sich ihr eigenes Curriculum, unabhängig von dem der Schule oder des Studiums, und sie haben große Freude am Lernen.
    Darüber hinaus ist bei ihnen ein ausgeprägtes Talent vorhanden, das ihnen die Arbeit leicht macht. Kommen sie aus familiären Verhältnissen, in denen dieses Talent nicht relevant ist oder nicht erkannt wird, braucht es Menschen, die es erkennen und fördern.

  3. Die Entwicklung und praktische Umsetzung der eigenen Idee ist das Karriereziel von Entdeckern und Erfindern. Sie streben keine vorgebende Karriere an und folgen den Karrierepfaden in Institutionen oder Organisationen nicht.

  4. Sie nehmen kaum Rücksicht auf ihre Familie, Freunde und sich selbst, all dies muss hinter das Entdecken zurücktreten. Die Vereinbarkeit von Privatleben und Entdecken gelingt, wenn das private Umfeld die fundamentale Bedeutung des Entdeckens für den Entdecker versteht, akzeptiert und ihn unterstützt.

  5. Entdecker wollen und müssen im Einklang mit dem sein, was sie entdecken wollen. Sie erleben oft einen Flow, wenn sie mit ihrer Entdeckung beschäftigt sind, sie sind beglückt und voll Energie, wenn sie an der Entdeckung arbeiten.

  6. Entdecker können keine Aufträge von anderen annehmen und ausführen, sie können nur ihren eigenen Ideen und Vorstellungen folgen und sich auf einen ergebnisoffenen Prozess des Entdeckens einlassen.

  7. Die Idee stellt Grundannahmen des Fachs (oder mehrerer Fächer), der wissenschaftlichen Disziplin, der Profession radikal infrage.

  8. Die Grenzen von Fächern/ Disziplinen/ Professionen werden nicht akzeptiert, sondern überschritten, die Erkenntnisse der einen mit denen der anderen verbunden, zu etwas Neuem synthetisiert, in das eigene Modell eingeordnet und immer weiter optimiert. Entdecker suchen Ihre Anregungen in Konzeptionen, Theorien, Praktiken anderer Fächern, Disziplinen, Profession und bei deren Vertretern. Sie arbeiten interdisziplinär und transdisziplinär.

  9. Bestehende Institutionen und Organisationen, die auf Bewahren setzen und sich Entdeckungen und Innovationen gegenüber ablehnend verhalten, fördern diese Menschen nicht. Sie unterstützten eher mittelmäßige und an Karriere in diesen Institutionen orientierte Menschen. Sie grenzen Entdecker aus, weil sie ihre Regeln nicht achten, nicht befolgen können und wollen und weil sie radikale Innovationen anstreben, die die bestehenden Grundannahmen und Axiome infrage stellen (vgl. Punkte 3., 6., 7., 8.).

  10. Umgekehrt lehnen die Entdecker diese auf Bewahrung ausgerichteten Institutionen und Organisationen ab, weil sie sie an der Erreichung ihres Karriereziels hindern (3., 6., 7.). Organisationale Strukturen und Prozesse zu bedienen oder sich führen zu lassen, hält sie von der Arbeit an ihrer Entdeckung ab. Die Schaffung von Rahmenbedingungen für die Arbeit an der Entdeckung ist wichtiger, als klassischen Karrierepfaden zu folgen und die damit verbundenen Belohnungen wie Status, Geld, Macht und Zugehörigkeit zu Organisationen zu bekommen.
    Entdecker suchen oft lange und immer wieder nach einer geeigneten Funktion/Position in oder am Rande von Organisationen.
    Wenn sie Glück haben, finden sie solche, die ihnen eine Arbeitsaufgabe geben, die nah an ihrer Entdeckung liegt, oder solche, die ihnen Zeiten, Räume und Ressourcen dafür bereitstellt und sie in Ruhe arbeiten lassen. Oder sie finden Menschen in etablierten Organisationen, die das Talent und die Bedeutung der Idee erkennen und den Mut haben das Risiko einzugehen, solchen Orchideen eine Chance zu geben und das offensiv zu vertreten.


    Max Planck z.B. gab dem völlig unbekannten Albert Einstein eine solche Chance, er sorgte für eine Veröffentlichung der Theorie und dafür, dass er einen Lehrstuhl bekam.Oft sind die fördernden Organisationen fachfremde oder nicht im eigenen Land zu finden, bei Hell z.B. eine Hochschule in Finnland, bei Stiefel eine Hochschule in Kanada.
    Aus diesem Grunde machen sich Entdecker oft selbstständig, Hell z.B. als „freier Erfinder“, Tesla als Unternehmer, und schaffen eigene Medien zur Veröffentlichung und Verbreitung ihrer Ideen, z.B. Humboldt mit dem dreibändigen Kosmos, Stiefel mit der Zeitschrift für Managementandragogik, Giesecke mit seinen zahlreichen Webseiten.

  11. Entdecker haben zeitweise oder beständig Probleme, ihre finanzielle Basis herzustellen und zu sichern. Sie finden 'Mäzene', die sie fördern, wie im 10. Punkt beschrieben. Häufig ist die eigene Familie, die sich nicht wie die etablierten Institutionen von Innovationen bedroht fühlt, der Mäzen. Im besten Fall liegt ihr das Glück des Entdeckers am Herzen und sie ermöglicht es ihm seiner Berufung zu folgen. Humboldt setzte sein beträchtliches Erbe ein, um seine Reisen, seine Entdeckungen und deren Veröffentlichung zu finanzieren.
    Oder Entdecker machen wenig geliebte Auftragsarbeiten, um damit Freiräume und Ressourcen für Ihre Entdeckung zu finanzieren – analog zu Künstlern, die eher ungeliebte Auftragskunst machen, um Zeit und Geld für freie Kunst zu haben. Manche Entdecker nehmen Kredite auf oder schränken sich ein und opfern alles der Entdeckung. Oder aber sie finden Menschen in etablierten Organisationen, die ihnen eine Chance zu geben.

  12. Finden Entdecker Auftraggeber für ihre Entdeckung, so ist und bleibt die Beziehung zwischen dem Entdecker als Auftragnehmer und dem Auftraggeber grundsätzlich prekär. Das Objekt, die Entdeckung, kann in der Vorphase der Entdeckung und der Phase des Entdeckens nicht definitiv festgelegt werden, denn dann wäre es keine Entdeckung. Die Entdeckungspraxis wird durch den individuellen Sinn, die der Entdecker ihr gibt und das Ziel, was er erreichen will, gesteuert, nicht durch von anderen festgelegte Ziele oder abzuliefernde Produkte. Man kann keinen Werkvertrag abschließen, wie es z.B. August der Starke mit Böttcher versucht hat, der für ihn Gold herstellen sollte. Der Auftraggeber muss sich darauf einstellen, dass Entdeckungen nicht durch Zielvereinbarungen erreicht werden können. Das hat John Jacob Astor gewusst, der Nicola Tesla nach missglückten Versuchen, Energie verlustfrei an jeden Punkt der Erde zu übertragen, immer wieder Geld gegeben hat.

  13. Es gibt Entdecker, es gibt Erfinder und es gibt solche, auf die beides zutrifft. Reinen Entdeckern reicht, dass Ihre Idee schlüssig, nachprüfbar und anwendbar ist. So entwickelte der Mathematiker Gauß seine Formeln und veröffentlichte sie. Reine Erfinder prämieren das Produkt, sie wollen ein Ding erfinden, das in der Praxis für einen bestimmten Zweck tauglich ist. Gesetzmäßigkeiten, grundlegend Axiome interessieren sie ehe nicht.
    Viele Entdecker sind nicht nur Denker, sondern auch Handelnde, Macher, Erfinder von Dingen. Häufig korrespondiert in der Praxis des Entdeckens die Erforschung grundlegender wissenschaftlicher Probleme mit der Erfindung von Dingen, an denen die Prinzipien praktisch getestet und überprüft werden.


    Beispiel dafür ist Philipp Reis, den die physikalische Frage interessierte, ob man Töne, also Sprache und Musik auf elektrischem Wege über große Entfernungen übertragen kann, und Vorläufer unserer heutigen Telefonapparate baute.
    Die Idee wird nicht nur theoretisch erforscht und beschrieben, sondern auch in der Praxis angewandt, überprüft, verbessert, bis sie funktioniert. Ausnahmen davon bilden Disziplinen wie die Mathematik, Gauß nutzte die von ihm entdeckten mathematischen Formeln, um als Landvermesser seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber er erfand kein neuen Geräte dafür.

  14. Entdecker sind, gemessen an ihren eigenen Maßstäben erfolgreich, wenn sie das entdecken, was sie entdeckten wollten, wenn sie ihr selbst gesetztes Ziel erreicht haben. Kolumbus wollte den Seeweg nach Indien mittels neuer Grundannahmen (man kommt auch nach Indien, wenn man nach Westen segelt) und neuer Navigationsverfahren und -techniken entdecken. Er entdeckte Amerika, die Westindies, was die Gesellschaft für die eigentliche Entdeckung hielt, nicht aber er selbst. Böttcher wollte mit alchemistischen Verfahren Gold machen und erfand dabei das Porzellan für Europa neu, suchte aber immer weiter danach, wie man aus anderen Metallen Gold machen kann.

  15. Für die Durchsetzung ihrer Idee in einer Professional Community, oder eines Produkts auf dem Markt brauchen sie häufig Unterstützer, die andere Talente, Kompetenzen und Persönlichkeitseigenschaften haben als sie selbst. Häufig sind Entdecker keine guten Geschäftsleute und auch keine guten Marketingexperten. Nur manche von ihnen sind auch Gründer und schaffen es Firmen begründen, die die Produkte des Entdeckens vermarkten.

  16. Ist die Entdeckung in der Welt, so entfaltet sie unabhängig von den Intentionen des Entdeckers und seinem Wollen Wirkungen auf die Menschen und die Natur, wir unterscheiden vier Möglichkeiten. Diese Wirkungen können darin bestehen, dass die Entdeckung, ganz anders als vom Entdecker gewollt, genutzt wird, zum Beispiel für kriegerische statt für friedliche Zwecke.
    Zweitens passiert es häufig, dass der Sinn, den der Entdecker verfolgt hat, nicht akzeptiert wird und der Entdeckung ein ganz anderer Sinn zugeschrieben wird (Beispiel Guttenberg: Ihm ging es um die schönste Schrift, der Gesellschaft um den Buchdruck als ein neues Kommunikationsmedium).
    Drittens ist es möglich, dass die Entdeckung als sinn – und nutzlos bewertet wird und damit in Vergessenheit gerät. Möglicherweise kommt sie zu früh, stößt auf Widerstand und wird viele Jahre später erst akzeptiert und eingeführt.
    Viertens kann die Entdeckung in der Natur Wirkungen entfalten, die vom Entdecker und vielleicht auch nicht von der Gesellschaft vorhergesehen und auch nicht gewollt sind, beispielweise die Nutzung der Kernspaltung mit verheerenden Folgen für die Menschheit und die Natur insgesamt.
    Für die Karriere des Entdeckers sind die Folgen, die die Verbreitung der Entdeckung hat und die Wirkungen, die sie auslöst, also unabsehbar und risikoreich.

tar_06, id230, letzte Änderung: 2023-03-07 09:22:29

© 2023 Prof. Dr. phil. habil. Kornelia Rappe-Giesecke